Icarus
er hinaustrat. Er wußte, daß das, was er zu tun beabsichtigte, verrückt war, aber er fühlte einen inneren Zwang, es trotzdem zu tun. Der Magnet existierte, und er zog ihn nach draußen.
An Schlaf war nicht zu denken, und er hatte das Gefühl, er müßte versuchen, zu verstehen, sich selbst zu vergewissern.
Ein Fuß tastete sich hinaus auf die Terrasse, und obgleich das für ihn gewöhnlich kein Problem darstellte, zog sich in dieser Nacht – oder an diesem Morgen – sofort sein Magen zu einem harten Knoten zusammen. Gleichzeitig trocknete seine Kehle aus. Ein weiterer Schritt, und dann noch einer, und schon war er etwa zwei Meter vom Ende der Terrasse entfernt. Seine Beine verloren rapide an Kraft und fühlten sich an, als würden sie ihn nicht mehr lange aufrecht halten können. Zwei Schritte, und er war dem Terrassenende noch näher. Er streckte die Hand nach der Mauer aus, trieb sich innerlich an, sie zu berühren, und er dachte, ja, ich kann das, ich schaffe es, aber dann begann er zu zittern, und er spürte, wie der Magnet ihn immer weiter anzog. Er konnte den Sturz sehen. Er konnte sie alle fallen sehen. Seine Mutter, den Mund grotesk verzerrt, die Augen ein einziges Flehen, verschwindend, Caroline, schlaff und leblos, stürzend. Kid …
Was sah er, während er Kids Absturz beobachtete? Zorn. Verzweiflung. Zerren und Kämpfen und Widerstand gegen etwas, dem nicht zu widerstehen war.
Grauen ergriff Jack, erfaßte seinen Körper, seinen Geist, seine Seele, und während seine Finger sich streckten, um die steinerne Barriere zu berühren, geriet er ins Stolpern. Sein Körper drehte sich halb, und er konnte spüren, wie er erschauerte. Mittlerweile völlig desorientiert, hatte er keine Ahnung, wie nahe er der Mauer war, dann spürte er, wie seine Schulter sie streifte, und er schrie auf. Der Schrei versiegte in seiner Kehle, er dauerte nicht sehr lange, aber jetzt spürte Jack, wie ihm die Kontrolle über sich entglitt. Seine Hand lag auf der Mauerkrone, und er sah absolut klar, was geschehen würde. Seine nächste Hand würde sich auf die Mauer legen, und er würde sich zwingen, den nächsten Schritt zu machen, und dann würde sich sein Bein wie durch Zauberei heben, und dann sein anderes Bein, und dann wäre er weg. Er würde über die Stadt dahinfliegen. Allsehend und mächtig. Aber dann würde auch er abstürzen. Genauso wie all die anderen. Es würde ohne Vorwarnung geschehen, sein Flug würde abrupt abbrechen, und da wäre er dann, dort draußen – dort draußen –, mit nichts, woran er sich festhalten könnte, mit nichts, das ihn rettete. Er würde fallen. Schneller. Immer schneller. Pfeilschnell. Und die Stadt würde ihm entgegenrasen, um ihn zu verschlucken, über ihm zusammenzuschlagen und ihn zu durchdringen. Die Schwärze würde ihn aufnehmen und sich einverleiben.
Schmerz. Lärm. Rauschen und dann Stille.
Und dann wäre es vorbei …
Als Jack die Augen aufschlug, lag er auf dem Boden seiner Terrasse. Seine rechte Hand hing über seinem Kopf, die Linke war an seinen Körper gedrückt. Er hatte keine Ahnung, wie lange er ohnmächtig gewesen war. Er wußte nicht, daß es weniger als eine Minute gedauert hatte. Er orientierte sich, sah den Tisch und seinen Sessel, sah die Langhantel und das Gestell mit den Gewichten. Er drehte den Kopf, um durch die Glastür ins Wohnzimmer zu blikken. Alles war dort noch immer dunkel und still.
Jack blickte nicht zurück zur Mauer. Er kroch die paar Schritte, die er brauchte, um mit der Hand das solide Glas der Schiebetür zu berühren. Als seine Handfläche sich dagegenpreßte, er spüren konnte, wie die Kälte in sein heißes Fleisch einsickerte, ließ seine Benommenheit nach. Sein Magen beruhigte sich allmählich, und sein Hausmantel, feucht vom Schweiß, löste sich langsam von seinem Körper und machte einem kühlen Lufthauch Platz. Er atmete tief ein und stand langsam, in Etappen, auf, als entstiege er einer Truhe. Oder einem Sarg.
Jack machte einen Schritt in seine Wohnung. Einen Moment lang stand er über der Schwelle, ein Fuß drinnen, einer draußen. Dann folgte sein zweiter Fuß, und er war im Wohnzimmer. Ohne sich umzuwenden, tastete er nach dem Türgriff, fand ihn und schob die Glastür zu.
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, fuhr sich mit der Hand durch das klatschnasse Haar, begab sich in sein Schlafzimmer und setzte sich auf sein Bett. Während er sich darauf ausstreckte, zog er die leichte Sommerdecke bis zu den Schultern hoch und
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