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Icarus

Icarus

Titel: Icarus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Russell Andrews
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würde ohnmächtig –, doch Bryan kam ihm zuvor. Kids bester Freund ergriff sanft ihren Arm und stützte sie. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, das beinahe ein Lächeln bei ihr auslöste, und als ein wenig Farbe in ihr Gesicht zurückkehrte, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und hauchte Bryan einen Kuß auf die Wange. Er blieb an ihrer Seite, bis Kid beerdigt war, dann beobachtete Jack, wie er sie zum wartenden Wagen brachte. Überrascht bemerkte er, daß Bryan leicht humpelte. Dann fiel ihm ein, daß der junge Mann auch schon gehumpelt hatte, als er das Restaurant verließ, um Kid zu suchen. Jack nickte unwillkürlich, als er ihm zusah. Er dachte, daß Kid sicherlich darauf stolz gewesen wäre, wie würdevoll Die Mauer sich an Kids Statt verhalten hatte.
    Im Haus – in dem sich seit ihrem letzten Besuch nicht das geringste verändert zu haben schien – ließen Jack und Dom sich zu einem Bourbon einladen. Sie hielten sich im düsteren Wohnzimmer auf, und es dauerte nicht lange, bis Jack so etwas wie Platzangst bekam. Die meisten Angehörigen der Trauergemeinde standen herum – ein paar hatten auf den blumengemusterten Sofas und leicht abgenutzten Sesseln Sitzplätze gefunden –, aßen Kuchen und tranken Kaffee oder etwas Hochprozentiges. Jack und Dom umarmten Kids Mutter, LuAnn, die sich aufrichtig freute, daß sie erschienen waren. Ihre Anwesenheit erinnerte sie jedoch an ihre frühere Tragödie, und Jack und Dom waren sich beide bewußt, daß sie für sie eine beunruhigende Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart darstellten. Dennoch wollte sie sie nicht gehen lassen. Sie hielt Jacks Hand fest und zog ihn näher zu sich. Irgendwann stand Jack mit Dom und Bryan neben LuAnn, die sich in einem Sessel ausruhte. Sie hatte eine Videokassette eingelegt, die sie sich im Fernseher im Wohnzimmer ansahen. Es war eine Aufnahme von einem Familienurlaub der Demeters – Eltern und Sohn – an einem Strand in Jersey, als Kid gerade neun Jahre alt war. Als Jack den Jungen und seinen Vater sah, mußte er lächeln.
    »Unser erster Ausflug nach Asbury Park«, kommentierte LuAnn das Video. »Kid hat den Strand geliebt.« Jemand wollte ihr eine Tasse Kaffee reichen, aber sie schüttelte den Kopf und bat statt dessen um einen Bourbon. Als man ihr das Glas gab, leerte sie es in einem Zug. Dann deutete sie mit einem Kopfnicken auf den Fernseher. »Er war ein richtiges kleines Dickerchen, nicht wahr? So nannte ich ihn immer, mein Dickerchen. Bis er und Bryan gemeinsam Gewichte zu stemmen begannen. Das habt ihr Jungs da unten immer gemacht, nicht war, Bryan?«
    »Das haben wir, Mrs. Demeter. Ich wette, ich habe mehr Zeit in Ihrem Keller verbracht als bei mir zu Hause.«
    »Du warst mir keine Last, ganz bestimmt nicht. Kid hat mir mehr Sorgen gemacht als du. Du kommst doch auch in Zukunft wieder her, oder? Ich meine, auch wo Kid jetzt … auch ohne ihn … ich hoffe, du kommst vorbei.«
    »Das tue ich, Mrs. Demeter. Deswegen brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Ich meine, wer kann schon so guten Schmorbraten kochen wie Sie?«
    LuAnn Demeter hörte aber gar nicht richtig zu, was Bryan sagte. Sie starrte auf den Fernseher und auf die Geister ihrer Familie, die über den Strand spazierten. »Er hat mir geschworen, er würde seinen Vater überleben«, sagte sie leise. »Deshalb hat er mit den Gewichten angefangen. Und mit dem Laufen und allem anderen. Er hat mir versprochen, er würde älter als sein Vater. Er hat es mir versprochen .«
    »LuAnn«, begann Jack und ergriff ihre Hand. Doch er erkannte, daß er ihr eigentlich nichts zu sagen hatte. Es gab nichts zu sagen. Daher hielt er ihre Hand und hoffte, daß er sie damit ein wenig tröstete.
    »Ohhh, Gott«, sagte sie und zog schließlich ihre Hand weg. »Mein Dickerchen …«
    Jack und Dom blieben, bis nur noch wenige Leute da waren. LuAnns Schwester war zugegen, und sie hatte eindeutig das Sagen. Als sie anfing aufzuräumen, fanden sie, daß sie Anstalten machen konnten, nach Manhattan zurückzukehren. Bryan sah, daß sie sich zum Aufbruch rüsteten, und fragte, ob sie noch einen Blick in den Keller werfen wollten.
    »Da unten sind noch viele Sachen von Kid«, meinte er, und sie nickten und ließen sich von ihm die schmale Treppe hinunterführen. Als Bryan das Licht anknipste, befanden sie sich neben der Heizung in einem halbfertigen Raum mit Betonboden. Eine schlichte Täfelung aus Plastikplatten mit imitierter Holzmaserung bedeckte zwei Drittel der Wandhöhe bis zur

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