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Icarus

Icarus

Titel: Icarus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Russell Andrews
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noch nie dort«, sagte Dom. »In Italien, meine ich.«
    »Du wirst hinkommen.«
    »Nee«, sagte Dom ohne einen Anflug von Selbstmitleid in der Stimme. Er stellte lediglich eine Tatsache fest. »Ich war noch nie irgendwo. Ich werde auch nie irgendwohin kommen.«
    »Ich wette, meiner Mom hätte es in Italien gefallen. Sie wäre sicherlich gern mit dir dorthin geflogen.«
    Dom schaute Jack an, wobei sein faltiger Mund und sein Kinn sich zur Andeutung eines Lächelns verzogen, dann holte er erneut zu einem perfekten Schwinger aus. Und auch diesmal legte seine Hand sich um Jacks Hals. Sein Griff war hart und fest und fühlte sich gut an. Die Schwielen des alten Mannes kratzten über Jacks Haut und sandten ihm angenehme Schauer über den Rücken.
    »Du bist ein guter Junge, Jackie. Ein wirklich guter Junge.«
    »Einundvierzig in zwei Wochen. Von wegen Junge.«
    »Einundvierzig … Jesus … dann bin ich ja …«
    »Hundertacht.«
    Dom schüttelte den Kopf, so traurig er konnte. »Du hast mir nichts anderes als Schwierigkeiten gemacht.«
    »Weil du niemals etwas anderes gewollt hast als Schwierigkeiten.« Jack beugte sich zu ihm, umarmte ihn und küßte ihn auf die Stirn. »Arbeite nicht zuviel.«
    Jack hörte auf dem Weg nach draußen ein gemurmeltes »Ja, ja, eines Tages ganz bestimmt«, und als er sich umwandte, um ihm zum Abschied zuzuwinken, war Dom gerade dabei, sich eine hundertfünfzig Pfund schwere Schweineseite unter den Arm zu klemmen und wegzuschleppen.
    »Dann bis sechs«, sagte Jack mit einem Kopfnicken zu niemand bestimmtem. Und zum erstenmal seit vielen Jahren ertappte er sich dabei, wie er auf die Stelle auf dem Hallenboden blickte, wo seines Wissens Sal Demeter zusammengebrochen war, und er dachte an Sal und seinen plötzlichen Tod und an Kid und sein Verschwinden. Nein, sagte er sich. Tu das nicht. Keine Gespenster mehr.
    Denk an Caroline, sagte ihm seine innere Stimme.
    Denk an morgen. Und an das Restaurant. Und an Charlottesville.
    Während er der Fabrik den Rücken zuwandte und langsam zu seinem Wagen ging, bewegte er die Lippen, fast unmerklich, und flüsterte vor sich hin: Keine Gespenster mehr. Und um ganz auf Nummer Sicher zu gehen, wiederholte er es noch einmal.
    Keine Gespenster mehr.

Sieben
    Sie blickte in den Spiegel.
    Wie stets in diesen Tagen war sie überrascht von dem, was sie im Spiegel sah. Sie erinnerte sich an einen alten Witz, den sie als Mädchen in der Schule einander kichernd nach einem Rendezvous zu erzählen pflegten: »Es sieht aus wie ein Penis, nur kleiner.«
    In den Spiegel schauend, dachte sie: Es sieht aus wie ich, nur älter.
    Caroline Hale Keller betätigte den Schalter an ihrem kleinen Schminktisch und zuckte leicht zurück, als das Dutzend kleiner Glühbirnen zu einem grellen Lichtkreis aufflammte. Sie zwang sich, die verzerrte Nahaufnahme ihres Gesichts zu inspizieren. Sie schaute über die eleganten Wangenknochen und die ebenmäßigen Züge hinweg. Alles, was sie sehen konnte, waren die Linien, die von ihren Augenwinkeln ausstrahlten, der leicht abwärts weisende Schwung ihrer Mundwinkel und die unverkennbare Andeutung von Tränensäcken unter ihren Augen.
    Sie hob die rechte Hand, um die Ohrringe abzunehmen. Sie zog die Haken aus den Ohrläppchen, ihre Hand bewegte sich im Spiegel, und sie hielt inne, ließ sie bewegungslos verharren. Auch ihre Hände waren voller Linien. Diese eleganten Hände waren nicht mehr glatt und weich. Und ihre Fingernägel, lang und unlackiert, erschienen ihr jetzt irgendwie grotesk.
    Sie dachte an Jack, der am späten Abend herüberkommen würde. Sie lächelte, denn sie wußte, daß er es zeitlich so einrichten würde, daß er sich im Autoradio das Spiel der Knicks würde anhören können. Er liebte die Knicks aufrichtig. Er hatte seit Jahren eine Dauerkarte, zweite Reihe, direkt unterm Korb. Er sagte immer, wenn es einen Platz auf der Welt gab, wo er eigentlich am liebsten wäre, ganz egal, wo er sich gerade aufhielt, dann wäre es im Madison Square Garden bei einem Playoff-Spiel der Knicks. Er kannte einige Spieler, viele Sportjournalisten und alle Platzanweiser. Das Restaurant war seit langem ein Treffpunkt für Sportfans, zumindest für die Athleten und Reporter und Manager, die Wert auf gutes Essen legten. Sie hatte an seiner Leidenschaft nichts auszusetzen. Er arbeitete so hart und schonte sich nicht. Er mußte sich mal entspannen. Der Junge in ihm brauchte es, Spree anzufeuern, damit er seine fünfundzwanzig Punkte schaffte, und

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