Icarus
gespenstische Gefühl, in eine längst vergangene Zeit, vor Fastfood-Ketten und Kaufhäusern und Internet-Shopping, eingetaucht zu sein. Aber das einundzwanzigste Jahrhundert verschlang rasend schnell diese letzte von Fabriken und Handwerksbetrieben und ihren Arbeitern gehaltene Bastion Manhattans. Viele der Metzger hatten vor den hohen Mieten kapituliert und waren verschwunden. Ihren Platz nahmen nun Kunstgalerien und schicke Modeboutiquen ein. Lagerhäuser wurden in teure Lofts umgewandelt. Edelrestaurants entstanden an jeder Ecke und lockten Mo dels und Schauspieler und Rap-Stars mit ihrem jeweiligen Hofstaat an. Für kurze Zeit hatten Jack und Caroline erwogen, ein Restaurant an diesem Ort, der allgemein Lower West Side genannt wurde, zu eröffnen, aber Jack hatte den größten Teil seines Erwachsenenlebens damit verbracht, diese Welt hinter sich zu lassen. Er liebte kurze Abstecher in diesen Teil seiner Vergangenheit, aber ganz gleich, wie hip und trendy diese Gegend wurde, er wollte auf keinen Fall für immer dorthin zurückkehren.
Er lenkte den Wagen auf die rechte Seite der Gansvoort Street und parkte direkt vor Dominick Bertolinis Meat Mart. Ein stämmiger Mann, Jack den Rücken zuwendend, Overall und weißes T-Shirt blutbesudelt, schleppte eine schwere Rinderhälfte zu einem Lastwagen. Er warf einen feindseligen Blick auf Jacks Wagen, setzte an, ihm zuzubrüllen, daß er dort nicht parken dürfte, doch als Jack dann ausstieg, verwandelte die Feindseligkeit sich schnell in ein Lächeln. Er konzentrierte sich wieder auf seine schwere Last und grüßte, während Jack an ihm vorbeiging, mit einem kurzen Kopfnicken, Jack stieg über ein Rinnsal einer hellroten Flüssigkeit – Blut mit Wasser gemischt – hinweg, die langsam aus dem Lagerhaus rann. Während er auf die stählerne Laderampe sprang und auf die schwere Schiebetür zuging, die in das riesige Lagerhaus führte, konnte er sogar hier draußen das dumpfe Dröhnen und fette Klatschen der Beile hören, die sich durch Fleischmassen fraßen und auf Hauklötze prallten.
Er trat ein und sah Dom, der sich über einen kleinen Schreibtisch beugte. Sein rechter Arm – oder was davon übrig war – hielt ein Stück Papier auf der Tischplatte fest. Seine linke Hand schrieb eifrig. Wie immer murmelte er vor sich hin, während er schrieb. Jack wartete, er sagte nichts, sondern schaute nur zu, wie der alte Mann sich auf seine Zahlen konzentrierte. Sein Rücken war kerzengerade. Und sogar unter seiner weißen Metzgerkluft war leicht zu erkennen, daß sein Bauch noch immer flach wie ein Brett und sein gesunder Arm hart und muskulös war. Der alte Mann war ein lebendes Wunder. Er war seit dem Tag, an dem sie einander kennengelernt hatten, keinen Tag gealtert, dachte Jack. Noch immer genauso lebhaft, noch immer arbeitete er genauso hart. Und er war noch immer so stark und arrogant wie eh und je. Jack war überzeugt, Dom hätte keine Ahnung, daß er schon da war, und so hätte er Muße, ihn zu beobachten und zu bewundern, seinen Freund, doch dann hörte er die vertraute, von Zigaretten und Whiskey rauhe Stimme: »Was ist, bis du so scharf auf mich, daß du nicht anders kannst, als mir auf den Hintern zu starren?«
Dom drehte sich jetzt um und sah Jack an. Sein Kopf ging rauf und runter – ein Zeichen sowohl für seine nervöse Energie als auch für seine sechsundsiebzig Jahre –, und er knurrte: »Was willst du?«
»Warum fragst du mich jeden Tag, was ich will, wenn du verdammt genau weißt, daß du mir erklären wirst, was ich will?«
»Ich möchte nicht, daß du dir überflüssig oder unwichtig vorkommst.«
»Also, was will ich?« fragte Jack.
»Babylamm. Wunderschön. Alles aus biologischer Haltung, vier, fünf Monate alt, vierundzwanzig bis fünfundzwanzig Pfund. Und ehe du nachfragst, da ich weiß, daß du seltsame Vorstellungen von Fairplay hast und die Region unterstützen möchtest, ja, sie kommen aus der Gegend, aus New Jersey, von der Burden Farm.«
»Okay, ich nehme …«
»Jackie, trau mir doch auch mal was zu, ja? Du nimmst hundertsiebzig Pfund, mit denen du drei Tage auskommen dürfest. Ich habe es schon zerlegt – Schulter, Lenden, Koteletts, Hals und Keulen zum Schmoren, kein Hirn, kein Kopf. Obgleich, warum stellst du eigentlich keinen Koch ein, der weiß, wie man Hirn zubereitet …«
»Dann versuch doch mal, meinen Gästen Hirn zu verkaufen, Dom.«
»Deinen Gästen würde ein wenig Hirn guttun, Jackie Boy. Das ist doch wohl mal klar.« Er
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