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Icarus

Icarus

Titel: Icarus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Russell Andrews
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hätte sie niemals ein Sonnenstrahl getroffen, und neben ihrem dunklen Haar, das ihr bis auf die Schultern reichte, noch weißer erstrahlte. Nur diese wenigen Sekunden waren nötig, diese Pose, sie spürte es deutlich. Dann nahm sie die Arme herunter, und sein Blick fiel auf die Halskette. Die Brillanten wirkten nicht mehr kalt und unerreichbar. Jetzt lagen sie heiß und glühend auf ihrer hellen Haut.
    Er nickte. Und wieder waren keine Worte nötig. Er reichte ihr seine Kreditkarte, und als sie die Arme erneut hob, um die Halskette abzunehmen, streckte er eine Hand aus und stoppte sie. »Nein«, sagte er. »Die gehört jetzt Ihnen.«
    Drei Monate später gab sie ihren Job auf.
    Und ein halbes Jahr danach heirateten sie.
    Womit er seinen Lebensunterhalt verdiente, hatte sie schon vor der Hochzeit erfahren. Und es störte sie nicht. Daß er ständig in den Nachrichten auftauchte, war ein wenig unangenehm. Sie legte Wert auf eine möglichst unangetastete Privatsphäre und wußte, daß sich in dieser Hinsicht einiges verändern würde, aber es war auch aufregend. Und das war es, was ihr eigentlich wichtig war, wie sie wußte. Nicht Geld. Nicht Sex. Abwechslung, Glamour. Am Tag nach ihrer Verlobung erschien ihr Foto auf der Titelseite der Post , und drei alte Freundinnen, die sie seit mehreren Monaten nicht mehr gesehen hatte, riefen sie an, um sie zu fragen: Weißt du wirklich, was du tust? Sie wußte es. Und es machte ihr nichts aus. Sie glaubte nicht, daß er sich nur einen Deut von anderen erfolgreichen Geschäftsleuten unterschied. Sie hatte keine Probleme mit der Moral dessen, was er tat oder woran sie in Zukunft sicherlich auch beteiligt sein würde. Sie hatte bis zur Hochzeit mit nichts irgendwelche Probleme.
    In den Monaten vor dem großen Ereignis verbrachten sie fast die gesamte Zeit miteinander. Sie führten endlose Gespräche – er war gescheit und witzig und überraschend gebildet. Er vermittelte ihr das Gefühl, ungebildet zu sein, und sie begann in dieser Zeit wieder zu lesen. Vorwiegend historische Werke, wozu er sie ermutigte, aber auch Romane. Und Biographien von Geschäftsleuten und Politikern und Begründern gesellschaftspolitischer Geistesströmungen. Er lud gern Gäste ein, und sie erwies sich als hervorragende Gastgeberin. Sie konnte einerseits liebenswürdig und entgegenkommend sein, sich andererseits aber auch völlig unsichtbar machen, und sie hatte ein sicheres Gespür dafür, wann diese Eigenschaften jeweils benötigt wurden. Der Sex, den sie hatten, war okay. Nicht gerade der beste, den sie je gehabt hatte, aber leidenschaftlich und heftig und manchmal sogar romantisch, denn sie liebten sich wirklich.
    Die Trauung fand in einer prunkvollen katholischen Kirche mitten auf Long Island statt. Die anschließende Party stieg auf dem Anwesen von Joes Vater, das sich ganz in der Nähe befand. Es war ein elegantes und stilvolles Fest. Etwa 500 Gäste waren geladen, höchstens zehn davon waren Freunde oder Freundinnen von ihr. Sie wußte, daß diese Freundschaften nach der Hochzeit nach und nach abreißen würden, aber auch damit konnte sie sich abfinden. Es machte ihr nichts aus.
    Was ihr jedoch etwas ausmachte, ergab sich, während sie den Hochzeitskuchen anschnitten.
    Er hatte ihr den Ring angesteckt, sie hatten einander das Jawort gegeben. Ihr Kuß dauerte lange und war innig, und die Gäste applaudierten und wünschten ihnen Glück. Sie tanzten – ein absolut glückliches, perfektes Paar, das scheinbar schwerelos über das Parkett schwebte –, dann gingen sie zum Tisch mit der dreistöckigen Hochzeitstorte. Sie ergriff das Messer, lächelnd und glücklich, und schickte sich an, das erste Stück herauszuschneiden, doch er reagierte blitzartig. Seine Hand schoß vor, erfaßte ihre und bedeckte sie. Und plötzlich stellte sie fest, daß sie ihre Hand nicht mehr rühren konnte. Er drückte sie und sagte ganz leise: »Nicht allein. Mit mir. Wir tun es gemeinsam. Du tust nichts allein. Jetzt nicht und auch in Zukunft nie mehr.«
    Für einen Moment glaubte sie, er machte einen Scherz. Sie lächelte fragend und sagte: »Liebling, was meinst du …?« Sie beendete den Satz nicht, denn es war nicht nötig. Mittlerweile hatte sie nämlich den Ausdruck in seinen Augen gesehen. Und der machte ihr Angst. Ließ ihre Knie nachgeben. Er glaubte, es wäre die Aufregung. Er hielt es für die übermächtige Freude über diesen seligen Augenblick. Aber so war es nicht.
    Als sie in seine Augen blickte, sah sie:

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