Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens
wogte. Und dahinter war nur noch offenes Meer. Meilen um Meilen erstreckte sich der Ozean zwischen ihr und dem Festland.
Cassie starrte aufs Wasser. Es war vorbei. Sie kam zu spät. Sie saß auf dem Packeis fest. All ihre großartigen Pläne, das Ende der Welt zu erreichen … Das einzige Ende, das sie erreicht hatte, war das Ende des Eises.
Eis und Wasser glitzerten im Licht der Sonne wie Gold und Juwelen. Heftig blinzelnd betrachtete Cassie die tanzenden Wellen. Sie wusste, dass man in der Kälte nicht weinen durfte. Das hatte ihr Vater sie schon vor Jahren gelehrt. Und hat er dich auch gelehrt aufzugeben? , fragte eine Stimme tief in ihr drin. Sollte das etwa so was wie eine Familientradition werden, dieses ewige Scheitern? Sollte niemals einer von ihnen die Troll-Festung erreichen? Wie der Vater, so die Tochter?
»Krieg dich wieder ein«, flüsterte Cassie. »Noch bist du nicht tot.«
Ihr blieben mehrere Möglichkeiten: Max konnte immer noch kommen. Oder … eine zweite fiel ihr nicht ein.
Inständig auf eine Inspiration oder ein Wunder hoffend, ließ sie ihren Blick über die Armee von Eisbären schweifen. Zwischen ihnen streunte ein Polarfuchs umher, ein Winzling unter Riesen. Der hat es gut, dachte sie. Leicht, wie er war, musste er sich auf dünnem Eis überhaupt keine Sorgen machen. Wäre sie nur so klein wie dieser Fuchs, dann könnten die Bären sie vielleicht schwimmend übers Meer tragen, ohne dass sie Gefahr lief, völlig durchnässt zu werden. Cassie betrachtete das schwarze, glitzernde Wasser und erschauerte. Ihr Vater hatte solches Wasser immer Todeswasser genannt: Wenn sie hineingeriet, würden innerhalb von fünfzehn Minuten ihre Muskeln steif werden, sie würde das Bewusstsein verlieren und sterben. So, wie die Dinge standen, ohne einen Munaqsri, der sie wärmen konnte, würde sie bei dem Versuch zu schwimmen im eiskalten Wasser umkommen.
Also musste sie einen anderen Munaqsri finden. Problem gelöst.
Sie schnaubte verächtlich. Als ob das so einfach wäre. Milliarden von Menschen lebten ihr Leben, ohne jemals einen von ihnen zu Gesicht zu bekommen. Die meisten wussten nicht einmal, dass Munaqsri überhaupt existierten. Ihr selbst warnatürlich inzwischen klar, dass es diese Wesen wirklich gab, auch wenn sie sich viel zu schnell bewegten, als dass sie sie hätte sehen können. Doch wenn sie nicht zufällig von einer unmittelbar bevorstehenden Geburt wusste oder einem Tod …
Die Antwort kam so plötzlich, dass sie beinahe laut aufgeschrien hätte. Wäre sie anwesend, wenn ein Lebewesen starb … Cassie glitt vom Rücken des Eisbären herunter und heftete ihren Blick auf den Polarfuchs. Seit Wochen hatte sie beobachtet, dass er und seine Artgenossen den Eisbären folgten wie Hunde einer Schafherde. Polarfüchse waren Aasfresser. Sie lebten von dem, was die großen Raubtiere von ihrer Beute übrig ließen. Aber hier waren enorm viele Bären, und so wurde alles ratzekahl aufgefressen. Für die Füchse blieb nur sehr, sehr wenig. Fast wäre ihr das Herz aus der Brust gesprungen, so schnell hämmerte es auf einmal.
Irgendwo auf dem Eis hinter ihnen musste es einen Polarfuchs geben, der kurz vorm Verhungern war.
»Wir kehren um«, sagte sie und klopfte dem Bären auf die Schulter. »Na los! Wir gehen den Weg zurück, den wir gekommen sind.« Wenn sie einen anderen Munaqsri fand, könnte er ihr helfen, das Eis zu verlassen. Besser noch: Er könnte sie zu Bär bringen!
Cassie stapfte durch ihre Eisbärenarmee Richtung Norden. Die Bären tappten unentschlossen umher und blickten sie aus ihren schwarzen, unergründlichen Augen an. Im Vorbeigehen streichelte Cassie den Tieren über das Fell und versuchte, sie zu beruhigen. »Ich werde ihn retten«, sagte sie. »Ich bringe euch euren König zurück. Ich verspreche es.«
Fünf Stunden später machte sie einen kleinen, schmutzig weißen Schatten aus, der vor dem Hintergrund aus blau-weißem Eis fast gelblich wirkte. Loser Schnee wirbelte in kleinen Wolken um ihn herum. Als sie sich näherte, hob der Schatten den Kopf. Ein alter Polarfuchs. Er war so abgemagert, dass sie durch sein Fell hindurch sämtliche Rippen zählen konnte. Armer Kerl, dachte sie. Hätten sich die Eisbären nicht in solch einer Masse zusammengerottet, hätte er bestimmt noch ein Jahr länger leben können. Doch er war nicht imstande gewesen, mit so vielen von ihnen um das Futter zu konkurrieren.
Cassie warf ihren Rucksack ab und kniete sich neben den Fuchs auf das Eis. Er
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