Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens
hinten und spürte den Körper eines zweiten Tieres. Es stieß sie sanft in den Rücken. »Was wollt ihr?« Ein weiterer Stoß. Sollte sie aufstehen? Cassie versuchte, ihr Gehirn einzuschalten. Träumte sie etwa? Es fühlte sich nicht so an. Die Schmerzen waren zu stark. Stöhnend kämpfte sie sich auf die Füße.
Hatte Bär die Tiere geschickt, um sie zu retten?
Die Menge teilte sich und gab den Blick auf Cassies Rucksack frei.
»Ich kann nicht«, sagte sie. Tränen brannten in ihren Augen. Zu spät. Die Bären konnten ihr nicht mehr helfen. Sie hatte keine Kraft mehr zum Weitergehen. »Ich bin müde. Ich habe Hunger.« Sie machte Kaubewegungen. »Versteht ihr? Hunger?« Sie machte saugende Geräusche.
Eine Bärin drehte sich willig auf den Rücken und entblößte vier runde Brustwarzen. Cassie leckte sich über die aufgesprungenen Lippen. Das Tier räkelte sich behaglich, drehte den Kopf und sah sie auffordernd an. Cassie sackte eher zu Boden, als dass sie sich bewusst auf alle viere niederließ, und kroch zu ihr hinüber. Sie blickten sich an, und die Bärin schloss friedlich ihre Augen.
Cassie zog einen Fäustling aus und nahm die Gesichtsmaske ab. Dann atmete sie tief durch und berührte eine der Warzen. Sie fühlte sich so dick und fest an wie ein menschlicher Daumen. Cassie drückte sie zusammen, und Milch quoll hervor – Leben. Die Bärin machte keinerlei Anstalten, sie zu zerfleischen. Im Gegenteil: Sie rührte sich nicht mal. Cassie beugte sich vor und streckte ihre Zunge aus wie ein Kätzchen. Dann drückte sie zu, und die ölige, nach Robbe schmeckende Flüssigkeit ergoss sich in ihren Mund. Die Milch war so reichhaltig und dick, dass sie ihr fast im Hals stecken blieb.
Cassie schaffte drei Schlucke, dann musste sie ausruhen. Den Kopf gegen den Bauch der Bärin gelehnt, driftete sie weg. Ein paar Sekunden später wachte sie wieder auf und trank noch mehr Milch. So ging es immer weiter – trinken, schlafen, trinken, schlafen – , bis sie endlich wieder das Gefühl hatte, ein Mensch zu sein.
Ich werde leben, dachte sie, während sie sich an die Bärenmutter kuschelte. Selbst von jenem Ort hinter dem Ende der Welt aus hatte Bär einen Weg gefunden, sie zu retten. Und irgendwie, dachte sie, werde ich auch einen Weg finden, ihn zu retten.
Kapitel Neunzehn
Geografische Breite: 84° 42 ' 08 " N
Geografische Länge: 74° 23 ' 06 " W
Höhe: 1 m
Die Augen schützend zusammengekniffen gegen das grelle Licht,suchte Cassie das immer weicher werdende Eis ab. Die Sonne schien jetzt vierundzwanzig Stunden am Tag, und überall bildeten sich Tümpel aus Schmelzwasser. Das konstante Tröpfeln hörte sich an, als tickte irgendwo eine Uhr. Drei Wochen lang war sie jetzt schon mit den Bären unterwegs, Richtung Ward Hunt Island. Sie hatte nur Rast gemacht, um Bärenmilch zu trinken und die Stücke von Robbenfleisch und Fisch zu essen, die die Tiere ihr brachten. Oft hatte ein Bär sie getragen, während sie schlief, damit sie keine Zeit verlor. Aber es hatte nicht gereicht.
Ich werde es nicht schaffen, dachte Cassie.
Sie versuchte, die Angst nicht zu beachten, die sich wie ein harter Knoten in ihrem Brustkorb festgesetzt hatte. Unter den Lagen von Flanell und Wolle rann Schweiß ihren Nacken hinunter und verursachte ein stechendes Prickeln auf ihrer Haut. Überall splitterte das Eis. Eisschlamm drängte sich in anderthalb Meter breiten Spalten und erzeugte bei jeder Bewegung ein schmatzendes Geräusch. Über ihr kreisten Lummen und Möwen. Die Vögel tauchten in den immer breiter werdenden Wasserrinnen nach Fisch. Sie würde nicht rechtzeitig festes Land erreichen, bevor sich das Eis von der Küste zurückzog. Ich werde es nicht schaffen, flüsterte die Stimme in ihrem Kopf unablässig. Ich werde es nicht schaffen.
Der Sommer kam.
Das Gesicht einem Streifen dünnen Eises zugewandt, stieg Cassie auf den Rücken eines der Bären. Wie auf Schneeschuhen lief er mit seinen riesigen Tatzen über das graugrüne Eis, das im Rhythmus der Wellen unter ihnen schwankte, während Cassie mit angehaltenem Atem Ausschau nach neuen Rissen und Spalten hielt. Sie blieb nun die ganze Zeit über auf seinem Rücken. Und so zogen sie gemeinsam über das dünne Eis und trotteten an vereisten Rinnen entlang.
Fünf Tage später erreichten Cassie und die Bären das Ende der Eisfläche.
Vor ihnen tanzten Bruchstücke von Eis auf den Wellen, die sich immer weiter auflösten, bis sie einen halb gefrorenen Brei bildeten, der auf und ab
Weitere Kostenlose Bücher