Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens
sehen.«
»Verlass dich nicht darauf!«
Wieder ließ er sie allein, und sie baumelte für den Rest des Tages tatenlos von der Decke. Es war schwer, nicht zu verzweifeln. Schwerer, als sie jemals für möglich gehalten hätte. Sie dachte an ihre Mutter, die achtzehn Jahre lang eine Gefangene der Trolle gewesen war. Kein Wunder, dass Gail unter Albträumen litt. Im Gegenteil. Es glich einem Wunder, dass sie nach allem, was sie durchgemacht hatte, noch einigermaßen bei Verstand war.
Am Abend kam Großvater Wald wieder zu ihr. Sie hörte nur, wie sich die Tür hinter ihr öffnete. Umdrehen konnte sie sich nicht.
»Du bist böse«, sagte sie rundheraus.
»Stimmt nicht, mein Kind. Dein Wohlergehen liegt mir sehr am Herzen.« Auf seinen Befehl lockerten sich die Weinranken und ließen sie los. Cassie stürzte zu Boden. Dort blieb sie liegen, die Wange gegen das harte Holz gepresst. Sie hörte, wie sich der Munaqsri neben sie kniete. »Es schmerzt mich, dich so zu sehen«, sagte er. »Bitte, so nimm doch endlich Vernunft an! Tu, was ich von dir verlange, und dein Aufenthalt hier wird äußerst angenehm sein. Du wirst mein Gast sein.«
Auf zitternden Armen stemmte Cassie sich hoch. Sie würgte, und ihre Oberschenkel klebten aneinander. Blut schoss in ihre tauben Finger. Ihr Blick traf seinen.
Großvater Wald hatte Tränen in den Augen. »Ich bin kein grausamer Mann«, sagte er. »Ich will nur das Beste für dich und dein Kind. Bitte, hör auf, gegen mich zu kämpfen! Ich bin nicht dein Feind.«
Urplötzlich rappelte Cassie sich hoch und versuchte, die Tür zu erreichen. Ihre Beine versagten ihr den Dienst. Sie warf sich in den Durchgang, doch die Ranken zogen sie zurück wie einen Hund an der Leine. Erneut sackte sie zusammen.
Der Weinstock hielt sie am Boden fest. Großvater Wald schnalzte mit der Zunge. »Dann also noch einen Tag.« Er stieg über sie hinweg. Kurz darauf öffnete sich die Schlafzimmertür und schloss sich wieder.
Allein, fest an den Boden genagelt, schaute sie zu, wie die Schatten der Fensterläden über den Fußboden krochen. »Oh, Bär«, flüsterte sie leise. Wie sollte sie ihn denn jetzt retten? Und wer würde sie retten? Wenn sie noch einen Tag länger in diesen Weinranken aushalten musste, würde sie den Verstand verlieren. Alles andere hätte sie ertragen können – jede Art von Schmerz, jede Art von Herausforderung –, aber nicht diese entsetzliche Hilflosigkeit. »Es tut mir leid.«
Sie musste unbedingt diese Ranken loswerden.
Ein Stimmchen begann in ihrem Kopf zu wispern. Wenn sie erst einmal frei wäre, könnte sie das Vertrauen von Großvater Wald gewinnen, ihn einlullen, in Sicherheit wiegen. Und dann, wenn er es am wenigsten erwartete, könnte sie fliehen. Sie versuchte, sich einzureden, das sei ein guter Plan, und keine Ausrede.
Trotzdem fühlte es sich an wie Verrat. Verrat an ihrem Ehemann, Verrat an ihrem Vater und, vor allem, Verrat an ihrer Mutter. Schon der bloße Gedanke daran machte sie krank. Doch ihre Gelenke kreischten vor Schmerz, und ihre Muskeln brannten wie Feuer.
Sie hörte Großvater Wald in die Küche kommen. Er stieg über sie hinweg und setzte den Kessel auf.
»Gut«, krächzte sie. »Du hast gewonnen.«
Er strahlte sie an wie eine Trickfilmfigur. »Gebt sie frei!«
Die Weinranken zogen sich zurück, und dieses Mal versuchte Cassie nicht, wegzulaufen. Stattdessen blieb sie regungslos auf dem Boden liegen und redete sich ein, das sei alles Teil ihres Plans. Doch im Grunde wollte sie einfach nur weinen.
Kapitel Vierundzwanzig
Geografische Breite: 63° 54 ' 53 " N
Geografische Länge: 125° 24 ' 07 " W
Höhe: 397 m
Cassie biss sich so heftig auf die Wange, dass sie Blut schmeckte. Lammfromm , dachte sie und versuchte sich zu konzentrieren. Besiegt . Nur unter allergrößter Anstrengung konnte sie sich zwingen, den Blick zu senken, der so voller Zorn war, dass er beinahe ein Loch in den Holzfußboden brannte.
Großvater Wald dagegen strahlte übers ganze Gesicht. »Braves Mädchen.«
Wie konnte jemand Bär für ein Monster halten? Das hier war eins. Und zwar ein echtes.
Er hielt ihr einen Besen hin, und sie nahm ihn gehorsam entgegen. Am liebsten hätte sie das Ding kurz und klein geschlagen. Letzte Nacht, nach ihrer Kapitulation, hatte er ihr einfach etwas zu essen gegeben und sie schlafen lassen. Heute Morgen jedoch hatte er sie mit einem Haufen Anweisungen begrüßt. Werde eine gute Mutter, hatte er gesagt. Werde die Frau, die Bär sich
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