Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens
Wald zärtlich. Cassie erschauerte. Ranken ringelten sich um ihre Beine. Da hing sie, drehte sich langsam um die eigene Achse und sah zu, wie Großvater Wald die Kerben streichelte, die ihre Axt ins Holz geschlagen hatte. »Wie konntest du das nur tun? Hast du denn gar kein Herz?«
Hass spülte über sie hinweg, und sie erwiderte nichts.
Großvater Wald befahl dem Wein, ihre Sachen zu verschlingen.
Durch die Fensterläden konnte Cassie in der Küche hören, wie er draußen liebevoll mit seinen Farnen sprach. Vor Verzweiflung hätte sie am liebsten in das Fensterbrett gebissen. Dass er es dieses Mal nicht für nötig befunden hatte, sie ganz in einen Weinrankenkokon einzuwickeln, ließ sie die Aussichtslosigkeit ihrer Lage nur umso deutlicher spüren. Sie ging in der Küche auf und ab wie ein Tiger im Käfig. Der hölzerne Fußboden fühlte sich warm unter ihren Füßen an, als wollte er sie daran erinnern, dass das Häuschen lebte. Als ob sie das jemals vergessen könnte! Wie eine Amöbe hatte der Wein alle ihre Sachen verschluckt, die Mukluks eingeschlossen. Das würde sie wohl kaum jemals vergessen. Wie sollte sie denn ohne jede Ausrüstung und ohne jeden Vorrat an Nahrungsmitteln aus einem lebenden Gefängnis entfliehen, dessen Wärter eine magische Kreatur war?
Auf der Suche nach ihren Sachen probierte Cassie alle Schränke und Schubladen, in der Küche, im Wohnzimmer, in den beiden Schlafzimmern, im Bad. Doch die Schubladen wollten nicht aufgehen, und die Schränke benahmen sich, als wären sie aus massivem Holz. Das ganze Häuschen schien aus einem einzigen Baum gehauen zu sein. Alles darin – Möbel, Einbauten, Wände – wuchs aus dem Fußboden. Sie ging zurück in die Küche. Es musste doch hier drin irgendetwas geben, das ihr nützlich sein könnte.
Als Cassie an der Tür des Schränkchens unter dem Ausguss zog, ging diese zu ihrer großen Überraschung auf. Nach einem schnellen Seitenblick auf die Weinranken (die jetzt wieder schliefen wie zusammengerollte Schlangen) und in Richtung Fenster (Großvater Wald war direkt da draußen, genau auf der anderen Seite, und summte ein irisches Volkslied) kniete sie sich hin und spähte hinein.
In dem Schränkchen befanden sich ausschließlich Putzmittel. Ihr Mut sank. »Raffiniert«, sagte sie zu den Fensterläden. Er musste damit gerechnet haben, dass sie alles durchsuchen würde. Er hatte gewollt, dass sie das hier fand.
In der Hoffnung, wie durch ein Wunder vielleicht doch noch etwas Brauchbares zu finden, inspizierte Cassie das Schränkchen von oben bis unten. Sie nahm Scheuermilch heraus, Putzmittel, Reinigungstücher – bis schließlich nur noch das Abflussrohr selbst übrig blieb. Es kam ihr merkwürdig vor, dass die Hütte ganz normale Abflussrohre hatte und ein mächtiger Munaqsri ganz alltägliche Reinigungsmittel verwendete. Hätte er das nicht alles mit Hilfe seiner magischen Kräfte erledigen können? Oder zog er es vor, sie dafür nicht einzusetzen?
Cassie schüttelte den Kopf. Irgendwie seltsam, dass sie jetzt an einem Punkt angekommen war, an dem sie Abflussrohre und Haushaltsreiniger überraschender fand als Magie.
Ihre Gedanken wanderten zurück zu jenem Tag, an dem sie Bär das erste Mal getroffen hatte.
Sie kniff die Augen fest zusammen. Denk nicht daran! Konzentriere dich nur auf deine Flucht! Sie setzte sich auf die Fersen und nahm das Schränkchen ein zweites Mal in Augenschein. Nicht einen einzigen Riss konnte sie in dem Holz entdecken, auch nicht den kleinsten. Nicht einmal eine Büroklammer konnte man hier verstecken, geschweige denn einen Rucksack. Sie würde weglaufen müssen, so, wie sie war, barfuß und ohne jede Ausrüstung. Aber Dad würde ihr helfen. Er hatte sie auf solche Situationen vorbereitet, sie gelehrt, von der Natur zu leben. Sie konnte Beeren essen, Vogeleier und Baumrinde. Sie würde ihr Bestes tun, um Parasiten, Durchfall und all die anderen bösen Überraschungen zu vermeiden, die Mutter Natur bereithielt. Sie würde nur aus fließenden Gewässern trinken. Doch zuallererst musste sie aus dieser Hütte raus.
Sie stand auf und sah sich um. Der einzige Teil des Häuschens, den sie noch nicht untersucht hatte, waren die Weinstöcke selbst. Cassie nahm all ihren Mut zusammen und stupste sie mit dem Finger an. Die Pflanzen blieben genauso reglos wie ein Baum. Vorsichtig nahm sie eine der Ranken zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt sie auf Armeslänge von sich weg. Die Ranke baumelte leblos herab wie ein
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