Ice Ship - Tödliche Fracht
einen windgeschützten Liegeplatz weiter oben im Kanal, an dem sie den Sturm aussitzen wollten. »Der Tanker bewegt sich weg von den Klippen ...« Vallenar sagte nichts, er wartete. »... dreht jetzt bei. Neuer Kurs null-acht-fünf.« Das war der falsche Kurs, wenn sie das ruhige Wasser des Kanals erreichen wollten. Vallenar wartete beklommenen Herzens weiter ab. Geschlagene fünf Minuten vergingen. »Kurs unverändert null-acht-fünf. Geschwindigkeit jetzt annähernd vier Knoten.« »Weiter auf dem Radarschirm verfolgen«, murmelte Vallenar. Aus seiner Beklommenheit waren Befürchtungen geworden. »Ziel dreht weiter ab, Geschwindigkeit fünf Knoten, Kurs eins-eins-fünf... eins-zwo-null... eins-zwo-fünf...« Für einen Tanker ist diese Beschleunigung beachtlich, ging es Vallenar durch den Kopf. Aber egal, was sie aus ihren Maschinen herausholten, einem Zerstörer konnten sie nicht davonfahren, das war völlig unmöglich. Er drehte sich um. »Zielansprache: Schwachstellen am Bug, oberhalb der Wasserlinie. Ich will das Schiff manövrierunfähig machen, nicht versenken.« »Fünf Knoten, Kurs bei eins-drei-fünf stabilisiert.« Sie wollen aufs offene Meer, dachte Vallenar. Und damit gab es keinen Zweifel mehr: Timmer war tot. Casseo, der Feuerleitoffizier, räusperte sich und sagte mit belegter Stimme: »Mündungen unter Feuervorbehalt auf die befohlenen Ziele gerichtet, Sir.« Vallenar versuchte, Besonnenheit auszustrahlen, so wie er es seinen Männern schuldig war. Er durfte nichts von dem preisgeben, was in ihm vorging. Aber er musste sich endlich Klarheit verschaffen. Daran lag ihm mehr denn je, schließlich ging es – wie sagte man in solchen Fällen? – um ein Herzensanliegen. Er nahm die Zigarre aus dem Mund und fuhr sich langsam mit der Zunge über die trockenen Lippen. Dann gab er sich einen Ruck: »Feuerbereitschaft herstellen.«
Rolvaag
3.55 Uhr
Glinn atmete tief ein und spürte, wie seine Lungen sich mit frischer Luft voll pumpten. Wie immer vor entscheidenden Augenblicken überkam ihn eine fast unnatürliche Ruhe. Der Bug des Schiffes war aufs offene Meer gerichtet, unter seinen Füßen hörte er die starken Maschinen röhren. Hinter ihnen, etwa zwanzig Grad neben dem Backbordmast, zeichnete sich der Zerstörer als heller Punkt im verwaschenen Grau ab. In fünf Minuten konnte alles erledigt sein. Aber wie immer hing Erfolg oder Misserfolg davon ab, dass sie den richtigen Zeitpunkt wählten. Er wandte sich suchend um. Puppup hatte sich in eine dunkle Ecke der Brücke verdrückt. Als Glinn ihm durch eine Kopfbewegung ein Zeichen gab, kam er zu ihm herüber. »Ja, Chef?« »Halten Sie sich bereit, dem Rudergänger zu assistieren. Möglicherweise müssen wir einige Male abrupt den Kurs ändern. Dann brauchen wir Sie und Ihre Erfahrung mit den Strömungen und der Unterwassertopographie.« »Der Unterwasser... was?« »Ihrem Wissen, wo es Riffs oder Untiefen gibt und wo wir genügend Wasser unter dem Kiel haben.« Puppup nickte mechanisch, doch dann schielte er mit schief gelegtem Kopf auf zu Glinn. »Chef, mein Kanu braucht höchstens zwanzig Zentimeter Wassertiefe. Ich hab mir um solche Dinge nie viel Sorgen machen müssen.« »Das ist mir klar. Aber mir ist auch klar, dass der Wasserspiegel hier bei Flut bis zu zehn Meter ansteigt. Und wir haben Höchststand, das Wasser wird also bald wieder fallen. Sie wissen, wo es Wracks und verborgene Felsbänke gibt. Also, halten Sie sich bereit.« »Ist geritzt, Chef.« Glinn sah dem kleinwüchsigen Mann nach, bis er sich wieder in seine dunkle Ecke verdrückt hatte, dann schielte er zu Britton hinüber, die mit Howell und dem Wachoffizier am Kommandopult stand. Sie war tatsächlich die tapfere, tüchtige Frau, die er von Anfang an in ihr gesehen hatte. Alles an ihr beeindruckte ihn, besonders die Art, wie beherrscht sie auf seinen rüden Eingriff in ihre Machtbefugnisse reagiert hatte. Dazu gehörten eiserne Selbstdisziplin und natürliche Würde, und sie hatte beides. Er fragte sich, ob ihr das angeboren oder das Ergebnis der bitteren Lehren war, die ihr die viel beschworene »Schule des Lebens« erteilt hatte. Vor kurzem war er in der Schiffsbibliothek zufällig auf ein Bändchen mit Gedichten von
W. H. Auden gestoßen. Eigentlich machte er sich nicht viel aus Poesie, er hatte sie immer für nutzloses Wortgeklingel gehalten. Aber dann hatte er in dem schmalen Band das Gedicht »Lobpreis des Kalksteins« gefunden, und das war eine Art Offenbarung für ihn
Weitere Kostenlose Bücher