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Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus

Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus

Titel: Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Wehrle
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bedient.
    Deshalb traf mich fast der Schlag, als in meiner neuen Firma ein halbes Jahr später dieselbe Unternehmensberatung einfiel. Ob sie diesmal zu einer vernünftigeren Analyse käme? Ob ihr, wenn sie hier auf dasselbe Problem wie beim Konkurrenten stieß, endlich klarwürde: Es herrschten keine Motivationsprobleme im Vertrieb, sondern Preisprobleme am Markt?
    Nach vier Wochen wurden wir zu einer Präsentation eingeladen. Schon die erste Powerpoint-Folie erkannte ich wieder. Bis auf wenige Schaubilder wurde exakt dieselbe Präsentation wie in meiner Ex-Firma gezeigt, nur mit anderen Zahlen. Die Folien waren aufwendig gestaltet, aber inhaltlich schlicht. Komplexe Vorgänge wurden auf wenige Zahlen reduziert. Die Texte waren primitiv wie Sprechblasen in einem Kindercomic. Die Zusammenhänge des Marktes wurden ausgeblendet.
    Und das Patentrezept – oh Wunder! – lautete wieder: ein neues Provisionssystem, Schulungen und Teilzeit-Mitarbeiter in der jeweiligen Region. Hier wurde dieselbe Trottel-Strategie verkauft, die man schon meiner Ex-Firma verordnet hatte. Dennoch sprachen die Berater von einer »maßgeschneiderten Lösung«.
    Machen die das immer so, wenn sie zwei Unternehmen derselben Branche beraten? Entwickeln sie kein Wissen, sondern betreiben nur Wissens-Recycling? Und flog dieser Betrug lediglich deshalb nicht auf, weil die Unternehmer sich im harten Wettbewerb über individuelle Strategien niemals austauschen?
    Beide Firmen machten am Ende dieselbe Erfahrung: Das neue Provisionskonzept erhöhte nicht die Verkaufszahlen, nur den Frust von uns Vertriebsmitarbeitern. Und beide Firmen gaben das Provisionssystem rasch wieder auf.
    Ãœbrigens habe ich in meiner neuen Firma kein Wort darüber verloren, dass ich dieselbe Präsentation schon einmal gesehen hatte. Die Unternehmensberater wurden von der Geschäftsleitung angebetet, ich hätte mich nur um Kopf und Kragen geredet.
    Fred Taylor, Vertriebsmitarbeiter
    Betr.: Das Geheimnis, warum unsere Beratungsfirma Ex-Mitarbeiter feiert
    In unserem Beratungsunternehmen herrschte ein gnadenloses »Up-or-out-System«: Entweder stiegst du in kürzester Zeit zum Projektleiter, Juniorpartner und Partner auf – oder du bekamst ein Schild vor die Nase gehalten, auf dem in Fettdruck stand: »Hier hast du keine Zukunft: Such dir was anderes!«
    Jeden Arbeitstag habe ich als Prüfungssituation erlebt. Das Motto hieß: »Sei besser als die anderen! Sonst bist du draußen!« 14-Stunden-Tage waren die Regel. Wie gut ich als Berater war, darüber urteilten nicht nur meine Vorgesetzten, sondern auch meine Kollegen. Doch wie wird jemand, der selbst zum Partner aufsteigen will, wohl einen direkten Konkurrenten bewerten? Es ging zu wie in einem Haifischbecken.
    Diese knallharte Selektion führte dazu, dass sich der Bestand unseres Haifischbeckens alle vier Jahre (fast) komplett austauschte. Die Alten, oft erst Ende 20, gingen. Und die Jungen, Mitte 20, kamen. Das Firmengebäude blieb dasselbe. Doch die Gesichter, die man darin traf, waren neu. Nur die Partner blieben.
    Gegen Ende meines vierten Jahres hat es dann mich erwischt: Mein Chef, einer der Partner, legte mir eine Zukunft » außerhalb unserer Firma« ans Herz. Das kam einer Entlassung gleich – auch wenn ich sie selbst per Kündigung zu vollziehen hatte. So war das hier üblich. Fast alle Kollegen, die mit mir angefangen hatten, waren bereits aussortiert worden.
    Doch in den nächsten Jahren passierte etwas Überraschendes: Wir, die vor die Tür Gesetzten, wurden plötzlich als Familienmitglieder adoptiert, zu ausgelassenen Partys, exklusiven Reisen und kulturellen Veranstaltungen eingeladen. Sentimental wie auf einem Klassentreffen ging es dabei zu, das Haifischbecken wurde im Rückblick zum vergnüglichen Freibad verklärt. Und dieselben Partner, für die ich vorher der letzte Dreck war, begrüßten mich wie einen alten Freund, unterhielten mich mit Anekdoten und winkten, wenn sich mein Glas leerte, den Kellner mit der Flasche herbei.
    Erst später habe ich auf einer solchen Party erkannt, warum Ex-Mitarbeiter so hoch im Kurs stehen: Mein Ex-Chef ließ sich alles über das Geschäftsfeld meiner neuen Firma berichten. Vielen Unternehmen in meiner jetzigen Branche, so erzählte er beiläufig, habe er zum Durchbruch verholfen. Und am Ende drückte er mir seine Visitenkarte in die Hand:

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