Ich arbeite in einem Irrenhaus
Individuum in den Mittelpunkt stellt, kann dessen Stärken und Schwächen anschauen und ein Jobprofil schneidern, das dazu wie ein Maßanzug passt. Beim reinen Stopfen eines Personallochs läuft es umgekehrt: Der Bewerber schneidert so lange an sich und seinen Unterlagen herum, bis er ideal zur Stelle zu passen scheint.
Schon mal überlegt, warum für eine Theatervorstellung und für ein Bewerbungsgespräch derselbe Begriff verwendet wird, nämlich Vorstellung? Beide Seiten spielen Theater. Das Irrenhaus kaschiert seinen Irrsinn. Der Bewerber kaschiert seine Schwächen.
Oder ist Ihnen eine Firma bekannt, deren Vertreter im Vorstellungsgespräch ehrlich gesagt hätten: »Ihr Vorgänger brach unter der Arbeit zusammen. Er hinterlässt einen Arbeitsstau, der schätzungsweise 150 Kilometer lang ist. Und Ihr Vorgesetzter – dieser nette Herr, der Ihnen gerade Kaffee einschenkt – hat bei seinen Brüllanfällen Schaum vorm Mund.«
Nein, die Unternehmen gehen wie die Hexe im Märchen von Hänsel und Gretel vor. Sie verpassen sich eine Fassade aus Zuckerguss, um Bewerber anzulocken. Lesen Sie mal eine Stellenausschreibung Ihrer Firma. Ich wette, in dieser Eigenlob-Hymne erkennen Sie alles Mögliche wieder – nur nicht den Laden, in dem Sie arbeiten.
Jede Firma, die länger als einen Geschäftstag existiert, spielt sich zum »Traditionsunternehmen« auf – als würden die Arbeitsverträge erst von der Ewigkeit gekündigt. Jeder Saftladen, dessen Reichweite nicht über den Stadtplan hinausgeht, schmückt sich mit dem Siegel »international agierend« – auch wenn das Einzige, was je importiert wurde, der französische Käse für die Weihnachtsfeier war. Und jedes Schnarchunternehmen, dessen letzte Innovation länger her ist als der Dreißigjährige Krieg, lehnt sich aus dem Fenster als »innovativ und für gute Einfälle offen«.
Aber wahrscheinlich kennen Sie auch keinen Bewerber, der ehrlich gesagt hätte: »Hinter der einjährigen Fortbildung, die Sie so beeindruckt hat, verbirgt sich eine Arbeitslosigkeit. In die meisten Jobs bin ich zufällig gestolpert. Und mein letzter Chef war so unfähig, dass ich ihm den Spitznamen ›Cheftrottel‹ verpasst habe. Noch Fragen?«
Beide Seiten, das Irrenhaus und der Bewerber, präsentieren sich von ihrer besten Seite. Das klingt besser als »sie lügen sich die Hucke voll«, meint aber dasselbe.
Die Entscheidung, ob ein Bewerber über die Vorrunde hinauskommt, liegt zunächst bei den Personalern. Sie schreiben die Stelle aus, buddeln sich durch die Bewerbungsunterlagen und lassen die Kandidaten im Erstgespräch vorsingen. Ihre Methode, mit der sie die Spreu vom Weizen trennen wollen, ist das Aussortieren. Statt vor allem auf die Stärken eines Bewerbers zu achten, statt Argumente für ihn zu sammeln, halten sie Ausschau nach Gegenbeweisen. Wer von der Norm einen Zentimeter abweicht, fliegt aus dem Rennen.
Dieses Vorgehen hat zwei Folgen: Der Scheinwerfer, der nur nach Schwächen sucht, blendet entscheidende Stärken der Bewerber aus – aber genau diese Stärken machen einen Kandidaten für die Firma wertvoll.
Und zweitens sind die Kriterien, nach denen sortiert wird, direkt aus der obersten Schublade der Küchenpsychologie gegriffen. Man schaut auf die Vergangenheit des Bewerbers wie in eine Kristallkugel, um daraus Schlüsse für die Zukunft zu ziehen.
Ein beliebtes K.o.-Kriterium sind die Verweilzeiten in einer Firma. Wer seinen letzten Arbeitgebern nicht länger als zwei Jahre gedient hat, wird der Sprunghaftigkeit verdächtigt. So einer, so die Sorge, kündigt übermorgen wieder. Und schon machen seine Bewerbungsunterlagen den Abflug auf den Stapel »unbrauchbar«.
Groteskerweise reagieren die Aussortierer aber auch auf umgekehrte Reize: War der Kandidat für seine bisherigen Firmen über zehn Jahre lang tätig, fragen sie: »Warum ist er so unflexibel ?« Sofort steht der Verdacht im Raum, der Bewerber sei ein träger Hund. Oder haben sich am Arbeitsmarkt alle Türen vor ihm verschlossen, weil er nichts zu bieten hat? Selbe Handbewegung: Stapel »unbrauchbar«.
Das geht so lange, bis nur noch die aalglatten Standardbewerbungen von aalglatten Standardbewerbern übrigbleiben. Ein Triumphzug des Mittelmaßes.
Dabei sind solche Lebenslauf-Interpretationen völlig willkürlich. Kann es nicht sein, dass ein wechselfreudiger Bewerber am Arbeitsmarkt besonders begehrt ist? Oder dass er, gerade weil die letzten Stationen kurz waren, jetzt eine dauerhafte Bindung
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