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Ich arbeite in einem Irrenhaus

Ich arbeite in einem Irrenhaus

Titel: Ich arbeite in einem Irrenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Wehrle
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weiß ich: Wo einer ist, der irre Dinger dreht, sind viele, die irre Dinger dulden. So manches Fehlverhalten, das vom offiziellen Regelwerk verpönt wird, ist unter der Hand erwünscht.
    Der besondere Effekt eines Irrenhauses? Es stumpft seine Insassen ab. Die Psychologen nennen diesen Vorgang »systematische Desensibilisierung«. Das ist eigentlich eine Form der Verhaltenstherapie, um Phobiker zu heilen: Wer Angst vor Spinnen hat, muss so oft Spinnen ansehen und schließlich anfassen, bis er sie nicht mehr fürchtet. So schleifen die Irrenhäuser die Skrupel ihrer Mitarbeiter ab.
    Wer zum Beispiel für eine Irrenhaus-Bank hochriskante – oder gar illegale – Spekulationsgeschäfte betreibt, mag sich anfangs noch vor den Risiken seiner Entscheidungen fürchten. Aber spätestens nach der Probezeit hat er seine »Phobie« abgelegt: Weil sein Vorgesetzter von ihm volles Risiko erwartet, weil das heimliche Regelwerk es vorgibt, weil jeder Idiot um ihn herum mit diesem Finanzspielzeug hantiert, scheint ihm dieses Treiben bald idiotensicher – und normal.
    Ein Schmierentheater, im wahrsten Sinne des Wortes, hat der Weltkonzern Siemens aufgeführt. Über Jahrzehnte wurden Geschäftspartner und Behörden in aller Welt mit Dollarmillionen bestochen. Doch diese Politik brachte eine unerwünschte Nebenwirkung: Siemens machte sich erpressbar. Zum Beispiel wurde bekannt, dass ein ehemaliger »Berater« aus Saudi-Arabien Anfang 2005 die gigantische Summe von knapp 35 Millionen Euro kassierte. Sein Vertrag war vorzeitig aufgelöst worden. Doch das, was nach Schweigegeld stank, wurde natürlich Entschädigung genannt. 20
    Wie viele Milliarden an Schmier- und Schweigegeldern sind im Laufe der Jahre geflossen? Wie viele Menschen im Konzern waren beteiligt? Wer hat diese Riesensummen bewilligt und gebilligt, wer hat sie ausgezahlt und verbucht? Doch diese ganze Kette aus Mitwissern und Mittätern löste sich in Luft auf, als die Schmiergeldpraktiken öffentlich wurden. Auf der Wiese des Irrenhauses grasten nur noch Unschuldslämmer. Die Schmierer von gestern gaben sich als Angeschmierte von heute.
    Solche Skandale in Irrenhäusern haben den öffentlichen Ruf nach »Compliance«, nach einer Selbstkontrolle der Unternehmen, anschwellen lassen. In den USA ist diese Prävention für Großunternehmen schon ein Muss, nicht zuletzt durch strenge Regelungen wie den Sarbanes-Oxley Act, ein Bundesgesetz von 2002.
    Das Prinzip: Wichtige Entscheidungen sollen nach dem Vier-Augen-Prinzip gefällt, unvereinbare Tätigkeiten getrennt und Schlüsselpositionen in Rotation besetzt werden – um das Unternehmen zurück auf den Pfad der Tugend zu führen. Als Herzstück der Selbstkontrolle sind »Hinweisgebersysteme« vorgesehen: Ein Mitarbeiter, der einen Verstoß in seiner Firma beobachtet, soll eine interne Anlaufstelle haben, wo er Alarm schlagen und sein Gewissen erleichtern kann.
    Die Begeisterung der deutschen Großunternehmen hält sich in Grenzen, wie eine Studie der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg belegt: Nur 44 Prozent haben sich diese Selbstkontrolle bislang auferlegt. Und lediglich ein Drittel (34 Prozent) hatte den Mut, ein Hinweisgebersystem einzuführen. Die Firmen fürchten, von den eigenen Mitarbeitern nicht geschützt, sondern denunziert zu werden (44 Prozent). 21
    Einige Irrenhaus-Direktoren nutzen jedoch die Chance, sich als kritische Köpfe und die Kultur in ihrem Unternehmen als grenzenlos offen zu präsentieren – sie greifen zu einem Compliance-Programm als Feigenblatt. Das kann in Zeitungsmeldungen für Glanz und bei den Aktionären für Vertrauen sorgen. Aber wie denken die Mitarbeiter darüber?
    Die meisten Aussagen gleichen dem, was ich von einer Projektentwicklerin gehört habe. Sie arbeitet für einen großen Technologiekonzern, in dem vor zwei Jahren ein Compliance-System eingeführt wurde:
    »Das ist eine einzige Heuchelei! Unsere Firma tickt wie eine Familie: Alles, was hinter verschlossenen Türen passiert, hat auch hinter verschlossenen Türen zu bleiben. Auf jedem Dokument über schräge Geschäfte steht ›streng vertraulich‹. Und wer Fehler oder gar Verfehlungen seiner Abteilung in anderen Bereichen oder gar der Geschäftsleitung bekannt macht, wird als Nestbeschmutzer gesteinigt. Compliance ändert an diesem Corpsgeist überhaupt nichts. Oder glaubt ernsthaft jemand, die Firma sei erfreut, wenn man ihr den Staatsanwalt auf den Hals hetzt?«
    §18 Irrenhaus-Ordnung: Keine Firma, die ein

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