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Ich arbeite in einem Irrenhaus

Ich arbeite in einem Irrenhaus

Titel: Ich arbeite in einem Irrenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Wehrle
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Resonanz so spärlich? In den Jahren zuvor war das Betriebsklima auf Eisfach-Niveau gesunken. Die neue Geschäftsführung hatte ältere Kollegen in den Vorruhestand gescheucht. Ausscheidende Mitarbeiter wurden nicht ersetzt. Den Erhalt der restlichen Arbeitsplätze wollte sie als Gnadenakt verstanden wissen.
    Dennoch war der Geschäftsführer völlig verblüfft, als ein anonymes 360-Grad-Feedback eine hohe Unzufriedenheit der Mitarbeiter aufdeckte. Vor allem war deutlich geworden, dass die Mitarbeiter sich von der Geschäftsleitung schlecht informiert fühlten. Fortan wollte die Chefetage die Mitarbeiter besser einbinden. Die Einladung, eine Vision zu entwickeln, war der erste Zug eines taktischen Spielchens.
    Doch am Ende stellte sich heraus: Demotivierte Mitarbeiter können keine motivierenden Visionen entwickeln. Tanja Ebert: »Die Vorschläge klangen wie Musikstücke in Moll. Am Ende musste doch die Werbeagentur ran.« Zusammen mit dem Geschäftsführer warfen die Mitarbeiter den Werbern ein paar Sonnenschein-Begriffe hin – »Zukunftsmärkte erschließen«, »Harmonie am Arbeitsplatz« und »Miteinander statt Gegeneinander«. Die Texter ließen ihre Phantasie walten. Die Vision klang dann wie ein Werbeslogan: »Gemeinsam eine starke Zukunft schaffen und die Marktspitze erobern – wir leben und lieben den harmonischen Dreiklang zwischen Geschäftsführung, Mitarbeitern und Kunden.«
    Wohlgemerkt: In dieser Firma war nichts harmonisch. In dieser Firma gab es keinen Dreiklang. Und auch von Liebe keine Spur. Und welcher höhere Sinn war durch diesen Slogan eigentlich benannt?
    Je mehr ich mich mit Visionen von Firmen beschäftige, deren Innenleben ich kenne, desto mehr bin ich überzeugt: Die meisten Visionen sind keine Leuchttürme, in deren Richtung sich die Firmen tatsächlich bewegen – vielmehr sind es Schranken, über die sie offenbar nicht hinwegkommen. Die Vision ist eine Ersatzhandlung.
    Wo Kundenfreundlichkeit gelebt wird, kommt niemand auf die Idee, dieses Wort in goldenen Lettern an die Wände zu schreiben. Wo der Umgang harmonisch ist, muss die Harmonie nicht herbeivisioniert werden. Wenn ein Unternehmen auf dem Sprung ist, die Marktführerschaft zu übernehmen, ist dieses Ziel in allen Köpfen so präsent, dass niemand dieses Wort in den Status einer Vision erheben muss.
    Die meisten Visionen weisen auf eine unüberbrückbare Kluft zwischen Reden und Tun hin. Der Mitarbeiter stößt mit seiner Nase jeden Tag auf diesen Widerspruch. Deshalb empfindet er die Vision seines Irrenhauses als demotivierende Heuchelei. Für ihn zählt nicht die gesagte, sondern die gelebte Wirklichkeit.
    Die heimliche Zielgruppe der Visionen sind ohnehin die Betrachter von außen: Kunden, Geschäftspartner, Öffentlichkeit. Wer eine Homepage anklickt, eine Stellenausschreibung liest oder in der Zeitung ein Porträt über eine Firma findet, kommt an der Firmenvision nicht vorbei.
    Dass die Mitarbeiter beim Entwickeln dieser Visionen einbezogen werden, ist oft ein hilfloser Akt der Scheindemokratie, erst recht, wenn die Ziele (zum Beispiel »Eigenverantwortung der Mitarbeiter«) dann im Alltag immer wieder durch Hindernisse (zum Beispiel Kontrollwahn der Vorgesetzten) verbaut werden.
    Was wäre schlimm daran, wenn die Unternehmensleitung ein sinnvolles Leitbild vorgäbe? Ist das Entwickeln einer zugkräftigen Vision nicht das Herzensanliegen eines leidenschaftlichen Firmenlenkers? Hätte Henry Ford es sich von seinen Mitarbeitern nehmen lassen, das Bild seiner Vision in aller Pracht auszumalen?
    In diesem Punkt bin ich mit dem amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler und Management-Guru Warren Bennis einer Meinung. Er weist darauf hin, dass »die Herde noch nie eine große Vision hervorgebracht hat, so wie noch nie ein großes Gemälde von einem Komitee geschaffen wurde«. 23
    Betr.: So ernannte sich mein Arbeitgeber zum »Weltmarktführer«
    Unsere Firma, Hersteller einer Spezialverpackung, hatte ein gewaltiges Problem: Die Preise waren viel zu hoch. Auf dem Welt markt spielten wir nur eine unbedeutende Rolle, trotz internationaler Ausrichtung. Dennoch tat unsere Geschäftsleitung alles, unser Image zu polieren. Nicht zuletzt wegen zahlreicher Fördergelder.
    Eines Tages kamen die Chefs auf eine tollkühne Idee: Sie verpassten unserer Firma einen Titel, dessen wahre Bedeutung nur der Insider verstand – »weltweit erfolgreichster Hersteller von XY-Verpackungen im hohen Preissegment«. Übersetzt hieß das: »So teuer

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