Ich arbeite in einem Irrenhaus
Projektverantwortliche entdeckt, mit klarem Bezug zu ihrer Arbeit. Die Reaktion ihres Chefs fiel wieder unterkühlt aus: »Vielleicht sollten wir Ihr erstes Jahr in der Firma abwarten. Andere Mitarbeiter warten schon länger auf diesen Kurs.«
»O.k. Was halten Sie dann davon, dass Sie mir in den nächsten Monaten bei meinem Großprojekt mal einen Coach an die Seite stellen? Das würde mir helfen, die Gruppenmitglieder zu koordinieren.«
»Coaching? Diesen Anspruch haben Sie erst, wenn Sie die zweite Hierarchieebene erreicht haben.«
»Aber es hieß doch, dass die Fortbildung hier ›schnell und individuell‹ sei …«
»Haben Sie sich schon mal in unserer Firmenbibliothek umgeschaut? Dort finden sich interessante Bücher – über Führung, über Projektmanagement, über so ziemlich alles.«
Diese »Bücherei« gab es tatsächlich. Es handelte sich um drei verstaubte Regale im Büro eines Bereichsleiters, die mit steinalten Standardwerken und mit »Business-Novellen« gefüllt waren. Diese Erzählungen erklärten im Stil des Kinderbuchs, was Führungskräfte angeblich von motivierten Fischverkäufern, findigen Mäusen oder Putzmännern lernen könnten (siehe Seite 176). Eine solche Lektüre entsprach nicht gerade dem Niveau, das sich die wissenschaftlich ambitionierte Petra Siegel vorstellte.
Immerhin wurde sie nach acht Monaten zur ersten Fortbildung entsandt. Es handelte sich um eine »Produktschulung«. Der Hersteller der Kosmetik führte live einen mehrstündigen Werbespot für sein Produkt auf. Der Höhepunkt des Tages bestand darin, dass die Teilnehmerinnen von Visagisten geschminkt wurden. Das war ein amüsanter Ausflug, gewürzt mit viel Propaganda. Aber eine Fortbildung, ein Anstoß zur Weiterentwicklung, war es nicht.
Mittlerweile hatte Petra Siegel von ihren Kollegen erfahren: Genau diese Produktschulungen machten zu 80 Prozent das vielgerühmte »Fortbildungsangebot« der Firma aus. Die restlichen 20 Prozent teilten die Führungskräfte unter sich auf: Zum Beispiel wurde für eine fünfköpfige Managergruppe ein deutscher Rhetoriktrainer einbestellt, dessen Tagessatz laut Homepage im fünfstelligen Bereich lag.
Eine klassische Zweiklassengesellschaft: Die Führungskräfte waren der Fortbildungsadel. Dagegen wurden die Mitarbeiter als Bauern gehalten und mussten sich mit Fortbildungsattrappen abspeisen lassen. Von einer Assistentin erfuhr Petra Siegel, dass man mit »übergeordneten« Fortbildungen auch deshalb sparsam war, »um die Bewerbungsmappen der Mitarbeiter nicht mit Munition auszustatten« (wie es ein Mitglied der Geschäftsführung im Jour Fixe einmal gesagt haben soll).
Mit dieser Angst steht der Naturkosmetik-Vertreiber nicht alleine da. Nach einer Umfrage des Marktforschungsinstituts Forrest Research fürchten 62 Prozent der deutschen Firmen, sie könnten Mitarbeiter nach Weiterbildungen eher an die Konkurrenz verlieren. Zum Vergleich: In Großbritannien plagt nur 27 Prozent der Unternehmen diese Sorge, in Frankreich nur 9 Prozent. 25
Aber wie sieht die Konsequenz aus? Ist es klug, seine Mitarbeiter dumm zu halten? Strebt nicht jeder Mensch nach persönlicher Weiterentwicklung? Und sind nicht Firmen, die den Mitarbeitern Raum für Bildung bieten, dem Markt einen großen Schritt voraus – zum einen, weil ihre Mitarbeiter besser informiert und motiviert sind; zum anderen, weil diese Arbeitsbedingungen die besten Mitarbeiter anziehen?
Tatsächlich wissen die deutschen Firmen, dass ihre Weiterbildungsprogramme als Lockruf über den Arbeitsmarkt hallen. Neun von zehn Personalern geben laut einer aktuellen forsa-Studie an, das Image eines Arbeitgebers werde durch ein Weiterbildungsangebot positiv beeinflusst. 26
Die Folge: Immer mehr Irrenhäuser stellen sich als Eldorados der Fortbildung dar, auch wenn sie es nicht sind. Mit dieser List gewinnen sie Schlachten im Krieg um die Talente. Doch der Triumph ist von kurzer Dauer. Das Image einer Firma wird von den neuen Mitarbeitern als Versprechen gesehen, als Grundlage eines psychologischen Vertrages, auf dessen Einhaltung sie im Alltag pochen.
Wer sich um (implizit) versprochene Fortbildungen geprellt fühlt, zahlt es dem Arbeitgeber in derselben Münze heim, ein sogenannter Pay-off-Effekt: Er wirft nicht 100 Prozent seiner Arbeitskraft in die Waagschale, sondern hält ebenfalls einen Teil seiner Leistung zurück. Ein Arbeitgeber, der Mitarbeiter um Bildungsmaßnahmen betrügt, schneidet sich immer ins eigene Fleisch.
Betr.:
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