Ich arbeite in einem Irrenhaus
Produktgruppen lassen sich trennen? Welche Geschäftszweige lassen sich – je nach Stimmung – einschmelzen oder ausbauen, fokussieren oder streuen, nationalisieren oder internationalisieren? Und welche Mitarbeiter könnte man, wie Wäsche an der Leine, mal unter diesem Chef, mal unter jenem Chef aufhängen – oder, wenn die Budget-Klammer nicht mehr trägt, sie in die Arbeitslosigkeit abstürzen lassen?
Meine Klientin Bea Eisele (49) arbeitet für einen Lebensmittelkonzern. Seit Jahren erlebt sie, wie sich das Organisationskarussell in atemberaubendem Tempo dreht. In den letzten sechs Jahren hatte sie fünf Vorgesetzte: »Jedes Mal, wenn ein Neuer kommt, frage ich mich: Lohnt es sich überhaupt, seinen Namen zu lernen? Oder ist er morgen schon wieder weg?«
Mit jeder Führungskraft wechselte die Marschrichtung. »Der erste Chef kam zu einer Zeit, als die Konzernpolitik hieß: ›Alle Preissegmente besetzen!‹ Unser Chef hat das pausenlos gepredigt. Nach einem halben Jahr hätte man mich in der Nacht wecken können, und als ersten Satz hätte ich gesagt: ›Alle Preissegmente besetzen!‹«
Es dauerte ein halbes Jahr, bis neue Lieferanten gewonnen, neue Produktlinien eingeführt waren und das Marketing anlief. Doch nur drei Monate später rollte die nächste Restrukturierungswelle heran. Bea Eisele bekam einen neuen Vorgesetzten. Und der legte den Schalter wieder um: »Er erklärte, wir hätten das letzte Dreivierteljahr alles falsch gemacht. Sein Mantra lautete: ›Wer alle Segmente bedient, bedient keines richtig!‹ Er wies uns an, die altbewährten Qualitätsmarken wieder in den Fokus zu rücken und ›den Billigkram‹, wie er es nannte, aus den Sortimenten zu streichen.«
Diese Anweisung wirkte auf die Motivation wie ein Platzregen auf eine Picknickgesellschaft: »Wir kamen uns natürlich wie die Idioten vor. War unsere ganze Arbeit denn umsonst gewesen? Hätte man die Angebote nicht mit mehr Ausdauer testen müssen? Und wie standen wir Einkäufer jetzt bei unseren Kunden da, denen wir Sonderkonditionen mit der Zusage abgerungen hatten, wir kämen dauerhaft ins Geschäft?«
Doch auch dieses Grauen währte nicht lang. Ein weiteres Jahr später preschte die nächste Restrukturierungswelle heran, diesmal mit dem Ergebnis, dass eine »Doppelspitze« die Abteilung übernahm: ein Mann und eine Frau.
»Das war der Horror meines Berufslebens«, sagt Bea Eisele. »Die Chefin wies mich an, ein großes Lieferkontingent zu sichern. Das habe ich getan. Worauf der Chef zu mir kam und mich dafür rügte, ich hätte über seinen Kopf hinweg entschieden. Die waren sich nicht grün. Und wir mussten das ausbaden.«
Nachträglich – denn diese Ära dauerte wiederum nur ein Jahr – stellte sich heraus, dass diese Doppelspitze nur eine Notlösung gewesen war: Im gehobenen Management hatten zwei Fraktionen darum gerungen, diese strategisch wichtige Position zu besetzen. Da man sich nicht einigen konnte, entsandte jede Seite einen Vertreter – und hoffte nun darauf, er würde den Konkurrenten wegbeißen.
Restrukturierungen sind oft der Wellenschlag interner Machtkämpfe. Die erste Gruppe, die der Zentralisten, setzt die große Verschmelzung mehrerer Geschäftsbereiche durch. Die zweite Gruppe, die der Föderalisten, muss das zähneknirschend hinnehmen. Doch wenn die Verschmelzung nicht sofort den gewünschten Profit in die Kasse regnen lässt, verschiebt sich das Machtgewicht. Die Föderalisten gewinnen wieder die Oberhand – was sich bemerkbar macht durch eine erneute Restrukturierung. Diesmal werden die frisch zusammengeschweißten Geschäftsbereiche wieder auseinanderdividiert.
Die Mitarbeiter der Irrenhäuser reagieren auf dieses Chaos mit einem natürlichen Reflex: Sie nehmen die Entscheidungen nicht mehr ernst. Hinter dem, was Strategie genannt wird, vermuten sie Willkür. Und gehen dazu über, die Beschlüsse im Zuge einer Restrukturierung in einem Tempo umzusetzen, das langsam genug ist, um sich bis zur nächsten Restrukturierung über die Zeit zu retten.
Die Mitarbeiter solcher Firmen sind für mich in der Karriereberatung durch ein untrügliches Zeichen zu erkennen: die Zahl ihrer Zwischenzeugnisse. Jeder Chefwechsel wird als Zeugnistag zelebriert, weil die Arbeit in dieser Ära vom nächsten Chef bestimmt als »Verfehlung« gesehen wird. Mir sind schon Bewerbungsmappen mit acht Zwischenzeugnissen in die Hände gefallen. Jedes Mal las sich die Aufgabenbeschreibung wieder anders – als hätte der
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