Ich arbeite in einem Irrenhaus
Vorgänger Edzard Reuter auf diesem Feld eine blutige Nase geholt hatte. Reuters liebstes Ideenkind war ein »integrierter Technologiekonzern« gewesen. Dazu hatte er bis Anfang der 1990er Jahre so ziemlich jede Firma eingekauft, die nicht schnell genug zur Seite sprang. Zum Beispiel schnappte er sich den Konkurrenten Messerschmitt-Bölkow-Blohm (MBB), den niederländischen Flugzeugbauer Fokker, den Elektrogiganten AEG inklusive seiner Tochter Telefunken sowie den Turbinenhersteller MTU.
Was er mit diesem technischen Gemischtwarenladen erreichen wollte, außer sein Firmenreich zu vergrößern und sich selbst zu profilieren, war Beobachtern rätselhaft. Der Kauf der AEG durch einen Autohersteller war eine typische Irrenhaus-Entscheidung. Die treffendste Frage stellte wieder mal ein Mitarbeiter, der Betriebsrat Manfred Lehmeier: »Was will Daimler eigentlich mit Waschmaschinen?« 36
Die Elektrofirma erwies sich als Elektroschrott – und blieb natürlich in den roten Zahlen stecken. Als der Reinfall nicht mehr zu leugnen war, reichte man die AEG zur Beerdigung an das schwedische Unternehmen Electrolux weiter. Die anderen Neuerwerbungen hielten ebenfalls nicht, was sich Daimler versprochen hatte.
Immer wieder das alte Lied: Die Irrenhaus-Direktoren wollen lukrative Firmen übernehmen. Aber letztlich übernehmen sie bei den Fusionen nur eines: sich selbst.
Und wer zahlt die Zeche? Nicht nur die armen Aktionäre, für die in der Presse immer heiße Tränen fließen – sondern die Mitarbeiter. Sie müssen zittern um ihre Arbeitsplätze, müssen auskommen mit gekürzten Etats, müssen sich pausenlos auf neue Strategien, neue Vorgesetzte und alte Dummheiten einstellen. Nicht gerade ein Kraftfutter für ihre Motivation.
Eine meiner Klientinnen hat die Auswirkungen des Daimler-Chrysler-Fusionstheaters als Insiderin miterlebt, sie erzählte: »Daimler war immer ein großzügiger Konzern. Bei den Gehältern, den Fortbildungen, bei allem. Aber damit war es ab Mitte der 2000er Jahre vorbei. Die haben in meinem Arbeitsbereich wie die Tollwütigen gekürzt. Über Nacht wurde ein Schulungsprogramm gestrichen. Ich hatte es mit viel Liebe aufgebaut. Über Jahre. Das war ein Schlag in den Magen. Auf meinen Protest hieß es nur: ›Irgendwo müssen wir ja mit dem Sparen anfangen!‹ Am liebsten hätte ich gesagt: ›Besser fängt das Management mit dem Denken an, ehe es über eine Fusion entscheidet – und nicht erst danach!‹«
Betr.: Die Fusion machte mich zur Kampfhenne
Als einzige Fremdsprachenkorrespondentin habe ich für eine kleine Fachabteilung eines Konzerns gearbeitet. Ich war gut ausgelastet, bis unsere Firma einen Wettbewerber übernahm. Nun hatten wir einen Konkurrenten weniger – aber zu viele Mitarbeiter.
Ein Teil der neuen Kollegen zog an unseren Standort. Für viele Positionen gab es Doppelbesetzungen. Diese »Zwillinge« wurden immer in ein Büro gesteckt. Bei mir zog eine andere Korrespondentin ein. Bald war klar: Die Arbeit der Fachabteilung reichte nur für eine von uns. Man sperrte uns wie Kampfhennen auf engstem Raum ein und wollte sehen: Welche setzt sich durch?
Schon bald haben wir uns gehasst. Jede schlich durch die Büros und lauerte darauf, der anderen einen Auftrag wegzuschnappen. Oft kamen wir mit der gleichen Beute zurück, ohne es zu merken. Dieselbe Arbeit wurde doppelt gemacht, oft wochenlang. Die internen Auftraggeber nahmen, was besser klang. Oder schneller vorlag. Es war ein ewiger Wettkampf.
So ging es vielen Kollegen. Unsere Firma wurde ein Treibhaus für Intrigen. Immer öfter kam es vor, dass Festplatten »zufällig« abstürzten. Dass vertrauliche Gehaltszahlen die Runde machten. Oder dass brisante Mails, in denen die Geschäftsführung kritisiert wurde, in der Postmappe des Vorstandes landeten.
Wir mobbten uns gegenseitig raus. Nach einem knappen Jahr war ich mit den Nerven so fertig, dass ich kündigte. Die Firma war mich ohne Abfindung losgeworden – so war es offenbar auch geplant!
Hellen Schneider, Fremdsprachenkorrespondentin
§29 Irrenhaus-Ordnung: Eine Fusion über Branchengrenzen hinweg ist schlau: Die Beobachter suchen nach der genialen Strategie dahinter. Niemand kommt auf die Idee, dass es gar keine gibt.
Der verrückte Papierkrieg
»Als der große Konzern uns schluckte, wurde alles anders«, erzählte Jasmin Huch (35), Einkäuferin bei einem bis dahin mittelständischen Lebensmittel-Hersteller. Vorher waren die Entscheidungswege unkompliziert. Die
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