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Ich arbeite in einem Irrenhaus

Ich arbeite in einem Irrenhaus

Titel: Ich arbeite in einem Irrenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Wehrle
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Etatfreigabe war die einfachste Sache der Welt. Erster Schritt: Man musste dem Chef schlüssig erklären, wofür das Geld benötigt wurde. Zweiter Schritt: Er nickte mit dem Kopf. Diese unbürokratische Politik funktionierte ausgezeichnet: Die Geschäfte des Herstellers florierten.
    Doch eines Tages gab der Inhaber dem Werben eines großen, ausländischen Konzerns nach: Gegen Zahlung einer Summe, deren Nullen kaum zu zählen waren, wurde der Mittelständler von dem Konzern aufgekauft. »Wir Mitarbeiter waren über diese Entwicklung zwar nicht erfreut«, so Jasmin Huch, »aber im Grunde haben wir gedacht: Es geht jetzt alles weiter wie bisher. Nur dass wir unter einem neuen Konzerndach arbeiten.«
    Mit dieser Annahme lag sie im ersten Jahr richtig. Die Irrenhaus-Direktion des Konzerns sah sich an, was der Lebensmittelhersteller so trieb. Vor allem schielte man auf die Ausgaben. Was wurde für Rohstoffe ausgegeben? Was für Personal? Und was für die Dinge des täglichen Bürobedarfs?
    Die grauen Konzernherren kamen überein: Im Folgejahr ließen sich die Ausgaben um fünf Prozent senken. Auch der Papier-Etat wurde gekürzt. Ohne Rücksprache mit den langjährigen Mitarbeitern.
    Im neuen Geschäftsjahr, gegen Mitte November, kam es zu einer grotesken Situation: »Ich will eine Einkaufsliste ausdrucken«, sagte Huch, »doch im Drucker ist kein Papier mehr. Also gehe ich in die Vorratskammer. Dort ist auch kein Papier mehr. Also gehe ich ins Sekretariat und sage Bescheid. Dort heißt es: ›Sorry, unser Papier-Etat für dieses Jahr ist schon erschöpft – schauen Sie doch mal in einer anderen Abteilung nach.‹«
    Jasmin Huch wurde in den Nachbarabteilungen vorstellig, doch dort stand man vor demselben Problem. Sie behalf sich, indem sie einen Kopierer öffnete und die Hälfte des Papiers entnahm. Doch diese Ration hielt nicht lang vor. Nach einer guten Woche war das komplette Blanko-Papier der Firma verbraucht.
    Auf Druck der Abteilungsleiter klopfte der Geschäftsführer beim obersten Irrenhaus-Direktor in der Zentrale an. Doch dort wurde der Einwand, man brauche neues Geld für Papier, lapidar abgeschmettert: »Die Etats richten sich nicht nach Ihrem Verbrauch – sondern Ihr Verbrauch hat sich nach den Etats zu richten. Das funktioniert überall bei uns im Konzern. Finden Sie bitte eine kreative und vor allem kostenneutrale Lösung!«
    Die Mitarbeiter waren um Ideen nicht verlegen: »Wir haben einfach das Briefpapier für normale Ausdrucke genommen; denn Briefbögen hatten wir noch genug.« Doch diese Strategie beschwor den nächsten Engpass herauf: Mitte Dezember war nicht nur das Blanko-, sondern zusätzlich das Briefpapier aufgebraucht. Die Firma konnte keinen Kunden mehr anschreiben, keine Rechnung mehr stellen, keinen Ausdruck mehr machen.
    Schließlich setzte sich der Pragmatismus durch: Etliche Mitarbeiter stiefelten in den Bürohandel und kauften aus eigener Tasche Papier. Die Briefbögen wurden in einer Mini-Auflage gedruckt und von den Abteilungsleitern selbst beglichen. Und so rettete sich der Lebensmittel-Hersteller, dessen Gewinn in zweistelliger Millionenhöhe liegt, durch ein Almosen seiner Mitarbeiter ins neue Jahr.
    Wer der Meinung war, die Planwirtschaft sei ausgestorben, sieht sich bei einem Blick in die Großkonzerne getäuscht: Hier wird kein Finger krumm gemacht, ohne dass vorher eine Genehmigung für das Krümmen dieses Fingers erteilt wurde. Die Welt hat, seit Erfindung der Ritterrüstung, nichts Starreres mehr gesehen als die Etat- und Personalplanung der Großunternehmen.
    Während der Bankenkrise habe ich erlebt, dass ein Versicherungskonzern einen »Einstellungsstopp« erlassen hat. »Unbefristet«, wie es hieß. Dieses Stoppschild stand den Fachabteilungen auch dann noch im Weg, als die Wolken der Krise sich verzogen hatten, die Aufträge anschwollen und ideale Bewerber auf der Matte standen.
    Es gab Arbeitsplätze, die nicht besetzt waren; es gab Kundenaufträge, die nicht bearbeitet wurden; und es gab ideale Bewerber, die diese Arbeit hätten erledigen können. Nur eines fehlte: das grüne Licht für die Einstellung, das formale »Go«.
    Erst mit etlichen Monaten Verspätung wurde die Sperre aufgehoben. Da waren die besten Bewerber bereits bei anderen Firmen unter Vertrag. Die Fachabteilungen mussten mit zweitklassigen Bewerbern Vorlieb nehmen – die dafür umso mehr liegengebliebene Arbeit auf den Tischen hatten.
    Woran viele Großunternehmen ersticken, hat der amerikanische

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