Ich beschütze dich
Oder kacken? Ich muss mal!«
Ich mustere ihn, wie er alle Viere von sich gestreckt auf dem Eisenbett liegt. Sein schlimmer Fuß mit dem Verband hängt über die Bettkante. Mit diesem Knöchel geht er nirgendwohin.
»Dann binde ich diese albernen Schals los, wenn du versprichst, nicht wieder so eine Dummheit wie gestern zu versuchen.«
»Nein. Nein. Ich verspreche es.« Das sagt er, als wäre er das Spielchen leid, wüsste aber, dass es für ihn besser wäre weiterzumachen.
Wir lächeln uns an, dann löse ich langsam die Knoten, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Die Schals haben rote Striemen auf seinen Handgelenken hinterlassen, über die ich mit dem Daumen streiche. »Ich habe dir doch nicht wehgetan, oder? Das hätte ich nicht gewollt.«
»Nein.« Er schüttelt die Hände aus, während ich die Seide wegziehe. »Nein, schon gut. So ist es besser. Danke.«
»Gut, dann bin ich bald zurück. Mit Gras und Croissants. Und ich bringe Simon mit.«
Auf dem Uferweg herrscht heute Morgen viel Betrieb, als ich zu den Läden gehe. Ein frischer Frühlingswind treibt Wellen über den Fluss, dass die Boote im unruhigen Wasser schwanken. Studenten mit Schals und Kapuzenshirts versammeln sich in kleinen Grüppchen im Garten der Universität, Kinder hüpfen zur Schule. Erwachsene eilen zum Bootsanleger, um mit dem Clipper in die Stadt zu fahren. Alle sind irgendwohin unterwegs. Ich will bei Rhodes für mich, Jez und Simon, der später vorbeikommt, Croissants kaufen. Vielleicht nehme ich für Jez zum Mittagessen noch ein paar von ihren großartigen Panini mit. Bis dahin hat er sicher Hunger. Wenn ich schon einmal da bin, kann ich ihm auch ein Schokoladenbrownie einpacken lassen. Kit hat immer gesagt, das Rhodes sei einer dieser Läden, in denen man nicht nur ein Teil kaufen kann, auch wenn man es sich noch so fest vornimmt. Wenn sie früher drängelte, bis ich ihr ein paar Stücke von der Prinzessinnentorte mit Marzipanüberzug kaufte, aß sie die einzelnen Schichten nacheinander und leckte zwischendurch die cremige Füllung ab.
An diesem Morgen bin ich richtig beschwingt. Sogar Michael bemerkt das, als ich vorbeigehe. Er arbeitet im Anchor und fegt gerade draußen den Gehweg.
»Du wirkst heute Morgen ja munter, Sonia«, sagt er. Ich winke und laufe weiter Richtung Greenwich Market. Ich überquere die Straße, will am Zeitungsladen vorbeigehen, bleibe aber stehen.
Von dem Ständer mit den Lokalzeitungen starrt mich sein hübsches Gesicht an. Was macht er hier, auf der Titelseite? Es ist ein Schnappschuss, er blickt lächelnd nach rechts, den Mund halb geöffnet, als hätte er jemand Besonderen entdeckt. Wen? Ich lese den Text unter dem Foto.
Jez Mahfoud – seit Freitag vermisst
Ich kaufe die Zeitung und gehe rasch zu der Treppe gegenüber der Cutty Sark, die nach der Beschädigung durch das Feuer immer noch weiß verhüllt ist. Beim Lesen weht der Wind immer wieder die Ecken der Zeitung hoch, und ich muss mit der Hand daraufschlagen. Vor dem Museumsschiff flattern die weißen Planen, und die Holzteile des blauen Bauzauns knallen und klappern. Der Wind irritiert mich. Ich brauche zu lange, bis ich begreife, was ich da lese.
Das Schicksal des jungen Mannes gibt immer mehr Anlass zur Sorge. Er verschwand, nachdem er am Freitagnachmittag vom Haus seiner Tante in Greenwich zu einem Treffen mit seiner Freundin aufbrach. Jez Mahfoud aus Paris wurde zuletzt Freitagmittag von seiner Tante Helen Whitehorn gesehen, bei der er einen einwöchigen Urlaub verbrachte.
Es sei untypisch für ihn, sich so lange weder bei seiner Familie noch bei seiner Freundin zu melden, so Inspector Hailey Kirwin.
Wie voreilig! Um Himmels willen, ständig kommen Jungs nach einem Wochenende mit Freunden, an dem sie viel getrunken oder geraucht haben, nicht nach Hause. Was soll das Theater? Ein Windstoß wirbelt das Titelblatt hoch und reißt es mir aus der Hand. Ich springe hinterher, um es zu fangen, und remple eine Frau an, die mir im Weitergehen einen Blick zuwirft. Als ich mit einem Fuß auf das Blatt trete, um es festzuhalten, verliere ich beinahe die Balance. Ich setze mich wieder und breite die Seite auf meinem Schoß aus.
Der Fünfzehnjährige wurde vierundzwanzig Stunden nach einem geplanten Auftritt seiner Band als vermisst gemeldet. Auch eine Verabredung am Freitagabend mit seiner Freundin im Greenwich-Fußgängertunnel hatte er nicht eingehalten. Seine Mutter erwartete ihn am Wochenende in Paris zurück. Dort kam er allerdings nie an.
Auf
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