Ich beschütze dich
Bleistiftstrichen in der schmalen Nische zwischen dem Bad und meinem Zimmer. Oft fahre ich mit den Fingern über eine Delle im Putz der Flurwand, die eine wütend geschleuderte Reiseuhr geschlagen hat. Ich klaube längst vergessenen Schmuck, alte Pennys, Postkarten und verlorene Fotos zwischen den Dielen hervor.
Gelegentlich rufen Freunde an und laden mich ein, aber ich schiebe Ausreden vor. Viele haben den Hinweis verstanden und aufgegeben. In Wahrheit ertrage ich es nicht, lange vom Haus und dem getrennt zu sein, was es mir nach und nach enthüllt. Es kommt mir vor, als würde ich eine Isolierschicht abtragen, die alles so gedämpft hat, dass ich mich viele Jahre lang nicht richtig erinnern, nicht richtig fühlen konnte. Und ich habe Angst, wenn Kit und auch Greg jetzt nach Hause kommen, könnte sich diese Schicht wieder schließen, und ich finde nie wieder, was jetzt schon zum Greifen nahe ist. Seit Jez hier ist, habe ich das Gefühl, die vergangenen Jahre würden bald wie unerwünschter Plunder zwischen die Dielen rutschen, und Vergangenheit und Gegenwart könnten endlich ineinanderfließen.
Kit kommt an, als ich gerade letzte Hand an den Esstisch lege. Gegessen wird natürlich in der Küche, aber vorher wird sie mit Greg im Wohnzimmer etwas trinken, wahrscheinlich einen Gin Tonic, und sich mit ihm über Anatomie und Blut und die neueste Gentherapie unterhalten, während ich auf dem Lamm herumdrücke, um zu sehen, ob es gar ist. Ich hole die Weingläser heraus, hauche sie an und reibe sie mit einem frischen Trockentuch ab. Kit kommt herein, groß und dünn, seit Kurzem eine Frau und nicht mehr die Teenagerin, die so lange mürrisch im Haus herumgelungert ist. Es lässt sich schlecht beschreiben, wie sie sich verändert hat. Zum Teil hängt es damit zusammen, dass sie Verantwortung für sich übernommen hat, dass sie sich wohler in ihrer Haut fühlt, als ich es je erlebt habe. Sie steht in der Tür, wie üblich sportlich gekleidet mit einer roten Skijacke und einer schwarzen Hose. Sie zieht die Handschuhe aus.
»Hallo, Mum.« Mit ihrer tiefen Stimme klingt sie beinahe wie Greg. »Riecht toll. Was gibt’s?«
Sie beugt sich vor und hält mir ihre kühle Wange hin. Wir umarmen uns nicht mehr. Seit ihrem Auszug haben wir uns eine recht förmliche Begrüßung angewöhnt. Manchmal spüre ich, dass ich sie nervös mache, und das finde ich traurig. Mit ihrem Vater geht sie entspannter um.
»Scampi. Gefolgt von Lammschulter. Hat Dad sich ausgesucht. Dafür habe ich dir deinen Lieblingsnachtisch gemacht. Bist du allein? Ich dachte, du bringst deinen neuen Freund mit.«
»Er kommt nach. Er holt schnell noch eine Flasche Wein für dich.«
»Das ist ja süß.«
Grinsend sieht sie mich an. »Er ist auch süß.« Man merkt, dass ihr diese Beziehung sehr wichtig ist, und ich frage mich wieder, was ich wohl von ihm halten werde.
Sie beginnt ihren Rundgang durch die Küche, wie jedes Mal, wenn sie heimkommt, hebt Dinge auf, legt sie wieder weg und sieht nach, ob sich etwas verändert hat. Ich werde nervös vor Angst, ich könnte eine Spur übersehen haben, einen Beweis für die letzten Tage mit Jez.
»Geh rüber und setz dich zu Dad. Ich muss mit dem Essen weitermachen.«
»Ja, gut. Ich sehe nur nach, ob ich Post bekommen habe. Du hast mir nichts mehr nachgeschickt.«
»Es gab nichts nachzuschicken«, sage ich. »Ich mache dir einen Drink. Geh und setz dich.«
»Ja, Mum, sofort. Versuch doch nicht gleich, mich loszuwerden, ich bin gerade erst angekommen.«
»Sei nicht albern. Ich versuche doch nicht, dich loszuwerden. Bleib ruhig hier. Ich dachte nur, im Wohnzimmer hättest du es wärmer. Dad hat den Kamin angemacht.«
Ich viertele eine Zitrone und lehne mich stärker auf das Messer als nötig.
»Geht es dir gut, Mum?«
Ich drehe mich zu ihr um. Sie steht mitten in der Küche, die Arme verschränkt, die Stirn leicht gerunzelt, und mustert mich.
»Natürlich geht es mir gut. Bestens.«
»Es ist nur … ach, schon gut. Hast du dir die Sache mit dem Gästezimmer überlegt?«
Wieder wende ich ihr den Rücken zu, werfe das Messer zur Seite und wasche mir demonstrativ die Hände über der Spüle. Ich versuche, ruhig zu klingen, vernünftig. »Wenn es dir nichts ausmacht, das Bett selbst zu beziehen. Laken sind im Wäscheschrank.«
»Was? Ich dachte, ich kann mich hier mal ausruhen!«, witzelt sie. »Bettenbeziehen kann ich auch an der Uni.«
»Und ich habe noch etwas anderes zu tun, als Betten zu machen. Das wird
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