Ich beschütze dich
gestorben, oder?«
»Er hat sich umgebracht.«
»Mein Gott.«
»Schon gut, Jez. Das ist lange her.«
»Aber – warum, warum hat er das gemacht?«
»Dass ich meine Prüfungen bestanden habe, hat nichts gebracht.« Eine alberne Träne steigt mir in die Augen, und ich wische sie mit dem Handrücken fort.
Ich könnte noch mehr erzählen. Viel mehr. Aber an manche Orte wage ich mich nicht, es würde weder mir noch Jez guttun. Ich bin nicht stark genug, um an sie zu denken, geschweige denn, über sie zu reden, und Jez soll nicht meine Qualen nachfühlen. Als er anfängt zu reden, bin ich froh und erleichtert, dass er sich mir öffnet, weil ich dadurch schweigen kann.
»Meine Mum ist von meinem Dad geschieden.« Seine Stimme klingt rau. »Sie haben es richtig versaut. Es ist erbärmlich, wie sie sich gestritten haben. Ich wohne nur bei meiner Mum, weil sie mir leidtut. Mein Vater hat eine Neue. Aber wenn ich aussuchen könnte, würde ich bei Dad wohnen.«
»Warum?«
»Meine Mutter gibt nie Ruhe. Etwa so, wie Ihr Dad klingt. Ich muss dies machen, jenes machen, irgendwas üben. Als rauskam, dass ich LRS habe, hat sie die Lehrer zur Schnecke gemacht, als wäre es ihre Schuld. Das war mir so peinlich. Mein Vater hat eine neue Frau, eine Marokkanerin, sie ist Lehrerin unten in Marseille, und sie haben eine kleine Tochter, meine Halbschwester. Ich bin gerne bei ihnen. Aber es wäre meiner Mum gegenüber unfair.«
Als ich ihn vor ein paar Tagen als braven Jungen bezeichnet habe, war das untertrieben.
»Es ist lieb, dass du dich so um deine Mutter sorgst«, ist alles, was ich herausbringe.
»Ich verstehe nicht, warum mein Dad sie verlassen musste.«
»Ach, Jez, oft heiratet man den Menschen, den man im richtigen Moment trifft, nicht seinen Traumpartner. Die äußeren Umstände sind entscheidend. Manchmal verändern sich die, und dann merkt man, dass man mit jemandem zusammenlebt, den man nicht mehr mag.«
»So ein Scheiß«, sagt er. »Ich würde nie jemanden heiraten, nur weil es Zeit wird.«
»Warst du schon mal verliebt?«
»Nee! Keine Chance.«
»Was ist mit dieser Alicia?«
Er zuckt mit den Schultern.
Ich merke, dass ich ihn in Verlegenheit gebracht habe, ich habe zu tief gebohrt. Er ist sensibel. Und noch so jung.
»Ich werde nicht solchen Mist bauen wie meine Eltern.«
Es ist verlockend, die weise, reife Frau zu spielen und zu sagen, das würden wir alle glauben, wenn wir jung sind, doch das will Jez nicht hören. Er glaubt wie alle jungen Menschen, er würde die Fehler seiner Eltern nicht wiederholen.
»Kennst du das«, frage ich, »wenn du als Kind irgendwann denkst, dass die Farbe Blau vielleicht nicht so ist, wie andere Leute sie sehen?«
»Wie, dass man etwas für blau hält, aber jemand anders vielleicht eine Farbe sieht, die man sich nie erträumt hätte? Das habe ich auch schon gedacht.« Er redet, ohne mich anzusehen. Seine Augen sind immer noch geschlossen. Er genießt unsere Nähe, hat aber Angst davor, sie zu genießen. Das verstehe ich vollkommen.
»Na ja, mit Beziehungen ist es genauso. Zwei Menschen können das Gleiche völlig unterschiedlich wahrnehmen. Woher sollen sie das wissen? Beide glauben, sie würden das gleiche Blau sehen, und sie würden an einem Strang ziehen, mit den gleichen Zielen und Wertvorstellungen. Vielleicht haben deine Eltern geglaubt, sie hätten jemanden gefunden, der das gleiche Blau sieht.«
»Sie sind erwachsen. Sie sollten sich etwas mehr Mühe geben. Andere Leute schaffen es auch zusammenzubleiben. Helen und Mick. Sie und Ihr Mann.« Als er das sagt, sieht er mich komisch an.
Wage ich es zuzugeben, dass meine Beziehung mit Greg auch ein Fehler war? Dass wir nur aus praktischen Gründen zusammenbleiben? Aber scheinbar will Jez glauben, wir wären in gewisser Hinsicht glücklich verheiratet, also sage ich nichts. Er sieht etwas besser aus. In seinen Wangen ist etwas Farbe, und sein Atem geht leichter. Er ist so nah, ich strecke eine Hand aus, streiche eine Haarsträhne zurück, nähere meinen Mund seinem Ohr. Er reißt den Kopf so heftig weg, dass es mich verletzt und beschämt.
Ich stehe auf und gehe zur Tür.
»Nacht, Jez.«
»Gehen Sie nicht!«, sagt er. »Bitte. Lassen Sie mich nicht wieder allein. Es tut mir leid.«
»Mir auch. Aber ich gehe jetzt. Wir reden morgen weiter.«
»Nehmen Sie mich mit nach draußen.«
Ich werfe ihm einen zärtlichen Blick zu. Er muss doch wissen, wie gerne ich es hätte, dass er mitkommt und sich an den Tisch setzt,
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