Ich bin an deiner Seite
Gedanke, morgen in ein Flugzeug zu steigen und nach Vietnam zu fliegen, gab ihr das Gefühl, mit Fieber im Bett zu liegen. Sie hatte sich schon von ihrer Mutter und von Rupi verabschieden müssen. Und sie wollte Holly nicht verlassen. Sie fühlte sich nicht stark genug für einen weiteren Abschied, selbst mit ihrem Vater an ihrer Seite.
Jetzt, während er mit einer Verkäuferin über die verschiedenen Kleider, über Seide und Größen und Schnitte sprach, versuchte Mattie verzweifelt, sich zusammenzureißen. Sie fühlte sich so müde, so schwach. Sie wollte ihren Vater nicht mit ihren Gefühlen belasten, weil sie wusste, dass er versuchte, sie glücklich zu machen, dass er sich an den Plan ihrer Mutter hielt. Normalerweise hätte sie es genossen, mit ihm ein Kleid auszusuchen. Er war mit ihr noch nie in einen solchen Laden gegangen, und sie war froh, dass die Idee von ihm gekommen war. Nur, dass sie sich nicht auf diese Freude konzentrieren konnte. Stattdessen dachte sie an Holly, daran, dass sie sie für viele, viele Monate nicht mehr sehen würde.
Eine elegant gekleidete Frau bat Mattie aufzustehen und fing an, ihre Maße zu nehmen. Mattie streckte die Arme aus und sah, wie die Mannequins sich anlächelten. Sie wollte mitlächeln, spürte jedoch, wie ihre Kraft sie verließ. Ihre Hände fingen an zu zittern. Sie schwankte unsicher. Plötzlich konnte sie sich nicht mehr auf den Beinen halten und stolperte auf ein Ledersofa zu. Ihr Vater fing sie auf, sah sie aufmerksam an, während Tränen ihren Blick verschleierten. Er sagte etwas zu der Verkäuferin und hob Mattie hoch, trug sie nach draußen, küsste ihre Stirn. Sie schlang die Arme um ihn, klammerte sich noch fester an ihn und versuchte, nicht zu schluchzen, schaffte es jedoch nicht, es zu unterdrücken. Er sagte nichts, aber er küsste sie erneut.
Er musste eintausend Schritte gelaufen sein, dachte sie, als sie endlich aufhörte zu weinen. Sie öffnete die Augen und sah, dass er sie in einen Park trug, an einen Ort mit hohen Bäumen und blühenden Büschen. Er ging zu einer Steinbank und setzte sich, hielt sie auf seinem Schoß.
»Was tut weh, Schatz?«, fragte er und strich ihr seitlich über das Gesicht.
»Ich … ich will nicht gehen.«
»Du willst Holly nicht verlassen?«
»Nein. Und ich will mich nicht mehr verabschieden. Bitte, Papa, bitte, mach, dass ich mich nicht mehr verabschieden muss.« Sie holte tief Luft und hatte das Gefühl, dass sie ihre Lungen nicht mehr richtig füllen konnte. »Ich … ich verabschiede mich immer noch von Mami. Manchmal in der Nacht. Aber ich will das nicht. Und ich will mich auch nicht von Holly verabschieden.«
»Warum, Ru? Warum verabschiedest du dich von deiner Mutter?«
Matties Tränen flossen erneut. »Weil sie manchmal … manchmal da ist. Und dann ist sie fort. Und ich muss mich wieder von ihr verabschieden.«
Er zog sie dicht an sich. »Oh, Schatz. Du musst das nicht tun.«
»Doch, das muss ich.«
Ian wischte ihr die Tränen ab. »Sag Hallo zu ihr. Wenn sie kommt. Und das nächste Mal, wenn sie kommt, sag wieder Hallo. Du musst dich niemals von ihr verabschieden.«
Sie weinte weiter, konnte nicht aufhören, zitterte in seinen Armen. Der Anblick dieses Zusammenbruchs drückte ihn nieder, weckte seine schlimmsten Ängste, seine tiefste Sorge. Sein kleines Mädchen war so schlimm verwundet, und er wusste nicht, wie er dafür sorgen konnte, dass sie nicht mehr blutete. Er küsste ihre rosa lackierten Fingernägel, sein Magen schmerzte, seine Welt stand in Flammen.
Er sah auf und suchte nach Kate, sah aber nur die Baumkronen. Ein Wind kam auf, ein Wind von Norden, von China. Der Wind war schwach, hatte keine Böen und kein Feuer, doch er schien eine Antwort für ihn mitzubringen – als hätte er mit Kate gesprochen und ein Geschenk von ihr erhalten. »Ru«, sagte er und blickte in ihre glänzenden Augen. »Schreib auf, was du dir wünschst. Wegen Holly. Schreib einen Wunsch auf ein Blatt Papier.«
»Was?«
»Tu es einfach, Schatz. Bitte, tu es.«
Mattie stand auf, wischte sich über die Augen und öffnete ihren Rucksack. Sie nahm ein Blatt Papier heraus, schrieb darauf, dass sie Holly wiedersehen wollte, und faltete das Papier zusammen. »Und was jetzt?«
Ian deutete auf einen riesigen Fikusbaum. »Jetzt kletterst du auf den ersten Ast. Und hinterlässt dort deinen Wunsch.«
Nickend stand sie auf, hielt seine Hand und ging zu dem Baum. Er hob sie vom Boden hoch, bis sie den untersten Ast greifen
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