Ich bin an deiner Seite
Mattie die Leute auf der Straße darunter beobachtete. Es gab viele Kinder in marineblauen Uniformen, die in Gruppen zusammen gingen. Mattie suchte nach einer Schule und sah die Kinder in ein großes Gebäude neben einem Baseballfeld gehen. Sie fragte sich, wie es wohl war, in Japan Kind zu sein. Würde sie sich hier auch allein fühlen? Gab es ein Mädchen in der Stadt unter ihr, das seine Mutter auch hatte sterben sehen? Weinte das Kind öfter, als es nicht weinte? Hatte es eine kleine Schwester?
Mattie blickte über ihre Schulter. Sie spürte das Gewicht ihres Rucksacks und dachte an die beiden Blätter, die darinsteckten. Würde ihre Mutter wirklich ihr Bild von dem Tempel sehen können? Würde ihr Wunsch nach einer kleinen Schwester in Erfüllung gehen? Bitte, Mami, dachte sie. Bitte lass meinen Wunsch Wirklichkeit werden, wie du es versprochen hast.
Der Zug fuhr in den Bahnhof ein und wurde langsamer, während eine automatische Stimme ihre Ankunft verkündete. Mattie versuchte, ihren Vater anzulächeln, merkte dann jedoch, dass er sie nicht ansah. Stattdessen blickte er auf die Berge, sein Gesicht so ausdruckslos wie Papier, das auf ihre Stifte wartete. Er nahm ihre Hand und führte sie aus dem Zug, folgte Hunderten von Passagieren in den Bahnhof. Ein paar Minuten später kamen sie in dem Vorort raus. Lebensmittelläden, eine Bank und Restaurants flankierten den Bahnhof. Es gab auch ein schlankes, fünf- oder sechsstöckiges Parkhaus, in dem ein paar Dutzend Autos und Tausende von Fahrrädern standen. Die Autos konnten auf einem riesigen Laufband nach oben gehoben werden, das praktisch das Aufeinanderstapeln von Wagen erlaubte.
»Welche Richtung, Papa?«, fragte Mattie, die unbedingt den Weg entlanglaufen wollte.
Zu ihrer Überraschung sah er sie nicht an. »Geradeaus, Schatz«, sagte er leise.
Sie gingen über eine schmale Straße, die auf die Berge zuführte. Geschäftsleute und Schulkinder kamen ihnen auf Fahrrädern entgegen, alle auf dem Weg zum Bahnhof. Mattie blickte die Kinder an und dann wieder ihren Vater. Er war den ganzen Morgen schon ungewöhnlich still, und sie spürte, dass seine Hand an ihrer schweißnass war.
Sie zog an seinen Fingern. »Geht es dir gut?«
Er sah sie an. »Ich schätze ja«, sagte er. Sein Lächeln war aufgesetzt und gezwungen.
Sie stiegen den Hügel hinauf, vorbei an Frauen, die mit altmodischen Strohbesen vor ihren Türen kehrten. Es gab keinen Bürgersteig, also blieben sie am Rand der Straße und achteten auf entgegenkommende Autos. Die Straße war so schmal, dass zwei Fahrzeuge, die aus unterschiedlichen Richtungen kamen, nicht aneinander vorbeifahren konnten, also musste ein Auto anhalten, während das andere sich nur Zentimeter von Beton-Telefonmasten, Häusern und steinernen Mauern um Grundstücke entfernt vorbeimanövrierte.
Auf den üppig begrünten Bergen standen blühende Kirschbäume. Mattie sah, dass der Blick ihres Vaters auf ein dreistöckiges Haus vor ihnen fixiert war. Das weiße Gebäude wurde von Reihen von Balkons dominiert, über deren Geländer Futons und Decken gehängt waren. Sie sah einen alten Mann ganz oben auf den Balkon treten und mit einem Holz-Teppichklopfer einen Futon ausschlagen.
»Was macht der da?«, fragte Mattie.
Ian schien sie nicht zu hören. »Da … da haben wir gewohnt«, sagte er, und seine Worte wurden fast von einem vorbeifahrenden Auto verschluckt.
»Wirklich?«
»Deine Mutter und ich.«
Mattie betrachtete das Haus. »Wo?«
Er deutete auf die Mitte des zweiten Stocks. »Dort. Ich bin bei ihr eingezogen. Sie hat die Wohnung zuerst gefunden.«
»Können wir raufgehen?«
»Nein, Schatz. Ich glaube, das kann ich nicht.«
»Warum nicht?«
Ian spürte, wie sein Puls sich beschleunigte. Schweiß lief ihm über die Brust. Sein Daumen zuckte hin und her. Sein Magen schmerzte. »Weil dieser kleine Raum unsere erste gemeinsame Wohnung war. Und manchmal … manchmal kann man einfach nicht zurück.«
»Oh.«
Er wollte noch mehr sagen, aber seine Stimme schien ihn verlassen zu haben. Deshalb führte er Mattie weiter, vorbei an dem Gebäude, das er so behandelte, wie er Kates Grabstein behandeln würde. Er erinnerte sich, wie er in ihr Zimmer gezogen war, wie er seine Sachen die Betontreppe hinaufgetragen hatte. Sie war ihm auf halbem Weg entgegengekommen und hatte ihn geküsst, obwohl ein öffentlicher Austausch von Zärtlichkeiten in Japan tabu war. Sie waren in ihr Zimmer gegangen, hatten die Taschen abgestellt und sich
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