Ich bin an deiner Seite
verstand sie, dass er ihre Gefühle teilte, und irgendwie ging es ihr durch dieses geteilte Leid etwas besser. Während der Hochgeschwindigkeitszug weiter Richtung Osten fuhr, hörten ihre Tränen und ihr Zittern auf.
»Ich hab dich lieb, Papa«, flüsterte sie.
Seine Finger fuhren die Linie ihres Kinns nach. »Ich habe so viel Glück, weil ich dich habe«, erwiderte er lächelnd, die Augen noch immer gerötet. »Weißt du, wie glücklich ich bin, dass ich dich habe?«
»Nein.«
»Wenn wir nach Australien fahren, Ru, auf unserer nächsten Reise, dann nehme ich dich mit in den Busch. Und dann schauen wir nachts in den Himmel, und dann siehst du wahnsinnig viele Sterne. Du siehst ein ganzes Meer davon. Und ich schätze, du wirst die Hände ausstrecken und das Meer berühren wollen. Ich zumindest wollte das.« Er schob ihr das offene Haar hinter die Ohren. »Für mich bist du wie all die Sterne, die den Himmel füllen. Ohne dich wäre ich verloren.«
Sie hielt seinen sich ständig bewegenden Daumen fest. »Willst du wissen, was Mami mir geschrieben hat?«
»Nur, wenn du es willst. Vielleicht sollten wir nicht … die Nachrichten des anderen lesen. Aber du kannst mir erzählen, was sie gesagt hat.«
»Wirst du deine Dose aufmachen?«
»Soll ich? Jetzt?«
»Ich denke ja.«
Ian nickte, musste plötzlich die Worte seiner Frau sehen. Er öffnete die Dose, die einen Brief und eine Muschel enthielt, die wie das Ei eines Rotkehlchens aussah. Die Muschel war orange und bernsteinfarben gesprenkelt und so weich wie die Wange eines Neugeborenen. In dem Brief, verfasst in eleganter Handschrift, stand:
Ian,
danke, mein Liebling, dass Du auf diese Reise gegangen bist. Ich weiß, dass ich viel von Dir verlange, vielleicht zu viel. Und ich will ehrlich sein – ich werde noch mehr verlangen. In den kommenden Tagen werde ich Dich bitten, noch mehr zu tun. Und Du wirst diese Bitten nicht mögen und vielleicht nicht mit ihnen einverstanden sein. Aber bitte denk darüber nach. Ich liebe Dich so sehr, und ich versuche, Dir zu helfen. Das Einzige, was ich an meinem Leben bedauere, ist, dass ich nicht da sein kann, um Dich und Mattie glücklich zu machen. Dieser Gedanke macht mich furchtbar traurig. Also, bitte tu diese Dinge für mich, weil der Gedanke, dass Du es tust, mich jetzt tröstet, am Ende, wo ich weiß, dass ich so viel verlieren werde.
Würdest Du bitte mit Mattie ein Picknick am Kamo-Fluss machen, so wie wir es immer getan haben? Weil ich Dich kenne, nehme ich an, dass Du während der Kirschblüte nach Japan gefahren bist. Vielleicht könntet ihr unter einem dicken Baum neben dem Kamo sitzen und die Blüten fallen sehen. Erinnerst Du Dich, wie wir immer versucht haben, sie mit der Zunge zu fangen? Ich habe diese Tage geliebt.
Ich habe die ganze Nacht an Dich gedacht. Ich habe Dir sogar ein Gedicht geschrieben. Ich bin jetzt so mit Schmerzmitteln vollgepumpt, dass ich nicht mehr wirklich beurteilen kann, ob Dir das Gedicht gerecht wird, aber hier ist es. Halt die Muscheln in der Hand, und denk an mich. Ich liebe Dich.
Meine Geschichte
Vor fünfzehn Jahren
lag ich auf einem Riff
im Südchinesischen Meer.
An einem perfekten Tag –
als der Himmel genauso
blau war wie das Meer –
fand mich ein Mädchen.
Dieses Mädchen tauchte tief, um mich zu holen,
so wie immer, wenn sie schöne Dinge suchte,
und als sie mich sah,
wurde ich das Zentrum ihrer Welt.
Seit jenem Tag reiste ich mit dem Mädchen.
Wir kletterten auf Bäume.
Wir schliefen im Regenwald.
Wir lauschten alten Städten.
Viel später gab mich das Mädchen
einem Jungen, den sie entdeckt hatte.
Genau wie ich
war er wunderschön und weise und gut.
Genau wie mich
hatte sie ihn tief unten gefunden,
wo sie es gar nicht erwartet hatte.
Als sie ihn sah,
wollte sie ihn sich
in die Tasche stecken –
wie sie es mit mir getan hatte.
Und jetzt, wo er mich festhält,
gehöre ich ihm.
Ian sah sich die Muschel an und stellte sich vor, wie Kate im warmen Wasser des Südchinesischen Meers danach getaucht war. Er stellte sich vor, wie sie die Muscheln entdeckte, danach griff und sie ans Licht holte. Sie hatte es immer geliebt, etwas zu entdecken, und ihn an das Kind in ihr denken lassen, wenn sie es tat.
Als er daran dachte, dass sie die Muschel berührt hatte, hielt Ian sie sich an die Lippen. Er wusste, dass er ihr Geschenk bei sich tragen würde, bis er nicht mehr gehen konnte. Und selbst dann würde die Muschel bei ihm bleiben, ein Schatz, den sie
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