Ich bin dann mal offline
wird als Schatzkarte, die nicht nur zu einem glücklichen Leben führt, sondern auch in den Schlafsaal der Mädchen. Letzteres war vermutlich auch der eigentliche Grund für den doppelten Kinobesuch. So oder so: Der altkluge Eigenbrötler Thoreau kann mir gestohlen bleiben. Ein Teil von mir freut sich auch auf die Rückkehr ins Netz. Auf die Möglichkeit, mit einem Mausklick Dinge zu erfahren, von denen ich vorher nicht einmal wusste, dass es sie gab. Auf die Möglichkeit, in Sekundenschnelle eine vielleicht völlig irrelevante, aber dennoch bohrende Frage zu beantworten. Und ja, auch darauf, bei Facebook oder Twitter zu lesen, was ein alter Bekannter gerade zum Frühstück gegessen hat. Immerhin erfahre ich auf diesem Wege, dass es ihm gut geht. Denn wer Honig-Flakes mit Mangojoghurt verspeist, kann gar nicht unglücklich sein. Gleichzeitig machen sich auch kleine Sorgen breit: Was ist, wenn ich eine wahnsinnig wichtige EMail verpasst habe und damit eine Chance auf viel Geld, eine Karriere als Astronaut oder eine Kombination aus beidem? Wenn jemand etwas Unflätiges auf meine Facebook-Seite geschrieben hat, und ich habe es 40 Tage lang nicht gesehen und als die schmutzige Lüge geoutet, die es ist? Bevor ich mich in eine Art digitale Paranoia hineinsteigere und mein Gelübde ausgerechnet am letzten Tag breche, mache ich lieber einen Spaziergang. Denn es ist schwer, die letzten 24 Stunden auch noch durchzuhalten, wenn es eigentlich um nichts mehr geht. Wenn es nur noch eine Formsache zu sein scheint, denn ich habe mir ja schon bewiesen, dass ich den Verzicht schaffe. Was kann es schon schaden, jetzt schon die Bücher zu bestellen, die man mir während meiner Offlinephase empfohlen hat? Umso schneller sind sie doch da -was soll schon passieren? Einen Tag früher oder später wieder einsteigen, wo liegt der Unterschied? Ich bleibe dennoch hart -unter anderem, weil eine seltsame Hemmung sich in mir ausbreitet. So ganz wohl ist mir bei dem Gedanken, wieder in die digitale Realität zurückzukehren, nämlich nicht. Oder anders herum: Nach anfänglichen Schwierigkeiten, Entzugserscheinungen und Sinnkrisen gefällt mir mein derzeitiger Zustand eigentlich ganz gut. Wie schon bei meiner ersten Verlängerung vor etwa zehn Tagen, scheint es mir auch jetzt einfacher, offline zu bleiben, als das Netzwerkkabel wieder einzustöpseln und das Handy wieder einzuschalten. Ich denke ernsthaft drüber nach, noch ein weiteres Mal zu verlängern. Aber ich merke, dass auch zumindest bei einigen meiner Mitmenschen der berühmte Geduldsfaden langsam so straff gespannt ist wie eine Gitarrensaite -und ich nicht einschätzen kann, wie lange er noch hält. Da ist zum Beispiel einer meiner Auftraggeber, der drei Mal »vergessen« hatte, dass ich noch um anderthalb Wochen verlängert habe. Da er sonst zu den unvergesslichsten Menschen zählt, die ich kenne, ist sein Verhalten wohl eher als ein genervtes »Ist jetzt langsam auch mal gut mit deinem albernen Selbstversuch?« zu deuten. Was in dieser Form niemand sagt, aber mehrere zu denken scheinen. Auch Jessica schien die Nase gegen Ende irgendwann voll zu haben. Und ich kann es ihr nicht verdenken. Unterm Strich waren die vergangenen 40 Tage für meine Mitmenschen vermutlich anstrengender als für mich selbst. Den Rest des Tages feiere ich stillvergnügt vor mich hin: Einerseits den letzten Tag eines relativ paradiesischen Zustands -andererseits die Tatsache, dass genau dieser Zustand morgen wieder ein Ende hat. Ich höre zum ersten Mal seit Ewigkeiten Musik weder über meinen iPod noch über meinen Computer, sondern lege eine alte Beach-Boys-Schallplatte auf. Und statt mich zu ärgern, dass ich alle 20 Minuten zum Plattenspieler gehen muss, um sie umzudrehen, freue ich mich über das große Foto auf dem Cover, das ich vor zwei Jahrzehnten in meinem Kinderzimmer so intensiv studiert habe, als würde es alle Geheimnisse des Lebens enthalten. Ich lese sogar eine gute Stunde lang die weitschweifigen Essays in einem dieser großformatigen und zentnerschweren Bildbände, die ich sonst nur auf den Couchtisch lege, um Besuch zu beeindrucken.
Nachdem mein Spaziergang vorhin streng genommen kein Spaziergang war, sondern in guter alter Multi-TaskingManier ein etwas ausgedehnter Gang zum Altglascontainer, mache ich am Abend noch einen zweiten Spaziergang, diesmal einen richtigen: ohne jeden Sinn und Zweck, einzig und allein dem Müßiggang dienend. Anschließend schreibe ich meine vorerst letzte Postkarte
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