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Ich Bin Dann Mal Weg: Meine Reise Auf Dem Jakobsweg

Ich Bin Dann Mal Weg: Meine Reise Auf Dem Jakobsweg

Titel: Ich Bin Dann Mal Weg: Meine Reise Auf Dem Jakobsweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hape Kerkeling
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einer Erinnerung an das Weihnachtsfest von 1978 oder an meinen dreizehnten Geburtstag oder gar an meine Geburt. Vielleicht sind wir in jedem Leben – unter Beibehaltung eines immanenten Kerns – jedes Mal ein ganz anderer respektive andere.
    Während meiner Schulzeit war ich zwar immer derselbe, aber doch in jeder Unterrichtsstunde anders. In Englisch war ich so was wie der Primus und deshalb selbstsicher und fröhlich, denn alles gelang spielend. In Mathematik war ich die Logarithmusflasche, der Tölpel, der kein Wort verstand, und aus Verzweiflung die Telefonnummern seiner Freunde an die Tafel kritzelte. In Geometrie war das dann zum Entsetzen meines Mathelehrers plötzlich ganz anders, denn das war für mich plötzlich kinderleicht. In Sport war ich dreizehn Jahre lang der Komiker! In Biologie war ich der Ängstliche, da die Lehrerin mich und meine Freundinnen Britta und Trixi über zwei Jahre traktierte. In Religion und Psychologie war ich der Gesprächige, Eloquente. Wie oft sind wir in ein und demselben Leben ein anderer, also warum sollte sich das nicht über mehrere Leben fortsetzen?
    Jedes Leben könnte wie eine Art Hindernisparcours funktionieren. Der Reiter ist die Seele, das Pferd der Körper und der Parcours das Leben. Zehn Hindernisse oder besser Prüfungen sind vorgegeben, die man zu bewältigen hat, und das ist unabänderlich. Aber die Reihenfolge und die Zeit, in der wir sie angehen, sind uns vollkommen freigestellt. Wir hätten demnach immer die freie Wahl, aber die Prüfungen wären schicksalhaft vorgegeben.
    Die Art und Weise, wie wir die zehn Hindernisse nehmen, wird dann von einer himmlischen Jury bewertet. Das, was wir vor und nach den entscheidenden Hürden tun, wird nicht bewertet. Es ist eine Art Urlaub von der zentralen Lebensaufgabe.
    Fast jedes Leben lässt sich doch am Ende auf ein Dutzend entscheidende Prüfungen reduzieren, die es ausgemacht haben. Jeder Nachruf hätte sonst Millionen von Seiten. Wenige Dinge sind im Leben wirklich wichtig und wenn man sich eingehend selbst erforscht, stellt man fest, dass man auch nur wenige echte Herzenswünsche hegt.
    Auf einem Pfad gelangen wir zur Passhöhe San Roque, wo eine berühmte, drei Meter hohe Pilgerstatue aus Bronze steht. Sie stellt einen gegen Sturm und Regen ankämpfenden Mann dar. Anne und ich machen Fotos. Bei schönem Wetter sieht das Monument wahrscheinlich ziemlich albern aus, aber heute kommen Wind und Wasser auch noch aus der richtigen Richtung auf den armen Kerl zugepeitscht.
    In einer Schutzhütte treffen wir kurz danach zu Annes großer »Freude« ihre »tea and coffee«-Franzosen René und Jacques wieder, die mich eifersüchtig von oben bis unten beäugen, aber der kleinen Engländerin dennoch wieder ungehemmt übers kurze Haar tätscheln, was ich rasch unterbinde, indem ich Renés Hand kurz entschlossen wegziehe. Die arme Anne ist nämlich wie gelähmt, wenn jemand so mit ihr verfährt. Als die beiden Franzosen mich danach ernsthaft fragen, ob wir zusammen seien, bejahe ich dies und behaupte selbstverständlich, wir hätten uns in O Cebreiro verlobt. Dass die Frau ihrer Pilgerträume sich mit einem groben Deutschen anstatt mit ihnen, zwei in Liebesdingen versierten Franzosen, abgibt, finden sie nahezu kränkend und suchen bald das Weite. So, dann hätten wir das auch geklärt!
    Der Pilgerstrom ist inzwischen enorm. Bis kurz vor der galicischen Grenze sah man am Tag acht, manchmal zehn Pilger, jetzt sind es Hunderte. Und jeder Schlafplatz, auch die in den Hotels, ist hart umkämpft.
    Bei unserer verregneten Ankunft in Triacastela bietet sich uns ein desaströser Anblick. Vor der sanierungsbedürftigen Turnhalle der grauen Schule steht eine nicht enden wollende nasse Pilgerschlange, die noch Einlass begehrt. Durch die beschlagene Glasfassade erkennen wir, dass im eiskalten Innern bereits Hunderte von Menschen auf dem von lehmigen Schuhen verdreckten Boden ihr Nachtlager aufgeschlagen haben und kein Zentimeter Platz mehr für die noch Wartenden übrig ist. Anne und ich fühlen uns für einen Moment wie albanische Flüchtlinge auf der Suche nach einer bescheidenen Bleibe und laufen sofort weiter.
    Mir fällt angesichts dieser problematischen Situation ein, dass Triacastela kurioserweise der einzige Ort am Weg ist, der ein Pilgergefängnis hat: Also entweder drehen hier manche durch, weil sie nicht unterkommen. Oder sie schlagen heillos über die Stränge, weil sie die härteste Etappe des Camino hinter sich haben? Wer

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