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Ich Bin Dann Mal Weg: Meine Reise Auf Dem Jakobsweg

Ich Bin Dann Mal Weg: Meine Reise Auf Dem Jakobsweg

Titel: Ich Bin Dann Mal Weg: Meine Reise Auf Dem Jakobsweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hape Kerkeling
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gerne gehört.
    Diese Pilger waren eine kleine Prüfung für mich und ich war eine Prüfung für sie.
    Hätten Schnabbel und Gerd da allerdings alleine gestanden, wäre ich geblieben.
    Schnabbel und Gerd tun mir Leid und lassen mich einfach nicht mehr los. Ich hab so tief in ihr Privatleben schauen dürfen und erlebe jetzt ihr Schaulaufen jenseits dieser Intimsphäre. Habe zu den beiden einen richtig unheimlichen Zugang, ähnlich einem Ohr, das alles hört. Am liebsten würde ich mal mit ihnen bei drei Flaschen eines guten spanischen Rotweins quatschen. Vor allen Dingen halten die zwei mir einen trüben Spiegel vor, in den ich gar nicht gerne schaue. Ich bin zwar nicht genau wie sie, wenigstens hoffe ich das doch, aber macht mich das besser? Ich kann doch niemanden verachten, bloß weil er verzweifelt ist! Ihr Schicksal berührt mich so wie das eines nahen Verwandten. Wahrscheinlich nenne ich sie auch deshalb Schnabbel, um sie für mich selbst erträglicher zu machen.
    Schnabbel klingt doch eigentlich eher niedlich, nach einer unbeholfenen tollpatschigen Ente mit einem viel zu großen Schnabel.
    Als ich gegen Nachmittag das stolze Sahagún von einem Hügel aus in der Ferne erblicke, muss ich spontan heulen. Halbzeit!
    Ich habe heute vierundzwanzig Kilometer geschafft und die Hälfte des Weges ist zurückgelegt.
    Ich fange jetzt nicht an wie Schnabbel alle meine gelaufenen Kilometer vorzurechnen, aber hätte ich sie nicht getroffen, dann wäre ich an dieser Stelle womöglich versucht, es zu tun.
    Während ich langsam wie in Trance auf die erhabene Stadt zulaufe, springt links aus dem Gebüsch etwas Langmähniges auf mich zu. Ich bekomme einen ziemlichen Schreck, denn zunächst denke ich, es handelt sich um einen tätlichen Angriff. Es ist allerdings eine hübsche junge Frau, die freimütig bekennt, dass sie im Feld mal kurz für kleine Mädchen war. Lara kommt aber nicht gebürtig aus dem Feld, sondern aus Vancouver in Kanada; eine der schönsten Städte der Welt, wie ich finde. Meine Wanderschuhe habe ich, ganz nebenbei bemerkt, in Vancouver in einem kleinen Schuh-G’schäfterl gekauft.
    Lara und ich reden, während wir gemeinsam verschwitzt weiterlaufen, dies und das über Kanada, die Strapazen des Weges und unsere Begegnungen, und ich räume reumütig ein, dass ich heute mit dem Gedanken gespielt hätte, einer Pilgerin den Hintern zu versohlen. Sie lacht, denn sie ist der Dame auch schon begegnet und fragt mich, wie weit wir eigentlich schon gelaufen seien, denn sie ist wie ich in Saint Jean gestartet. Ich sage: »Heute ist Halbzeit, heute ist die Hälfte geschafft. Wusstest du das nicht?«
    Sie bleibt stehen, jubelt, fängt an zu weinen und fällt mir um den Hals. Sie hat keine Landkarte und kein Wanderbuch dabei; sie läuft einfach, ohne genau zu wissen, wann sie wo ankommt und wie viele Kilometer sie am Tag zurücklegt. Diese Frau hat mir Einiges voraus!
    Und dann sagt sie: »Wusstest du denn, dass nur fünfzehn Prozent der Pilger überhaupt bis zum Ende durchhalten? Es werden im Jahr Tausende von Pilgerpässen ausgestellt, aber nur fünfzehn Prozent werden am Schluss wirklich in Santiago abgestempelt... Es ist halt ein Erleuchtungsweg. Was sagst du?«
    Ich schaue sie an und sage: »Maybe!?«
    Lara erzählt, dass sie aufgehört habe, Fotos von sich zu machen. Sie trage ja auf jedem Foto sowieso immer dasselbe und sehe immer gleich aus. Also wozu viele Fotos machen, eins reicht. Genau deshalb habe ich auch aufgehört, Fotos von mir zu machen.
    Komisch, zu Hause sieht man jeden Tag äußerlich anders aus und ist innerlich nahezu konstant. Hier ist man äußerlich immer gleich, aber innerlich sieht es hier stündlich anders aus.
    Sahagún kommt immer näher und eine Frage brennt mir heute wieder unter den Nägeln und so frage ich die hinter ihrer Brille intelligent dreinschauende Lara: »Was, glaubst du, ist Gott?« Sie schaut mich skeptisch an: »Willst du das wirklich von mir hören?« Ich nicke.
    »Hast du Zeit?«, will sie kichernd wissen und ich nicke noch einmal.
    Lara holt tief Luft: »Okay... Ich rede nicht gern darüber, denn manchmal habe ich die Ahnung, dass meine Gedanken scharf und genau sind und dann fasse ich sie in Worte und alles wird plötzlich stumpf und vage. Ich glaube, Gott hat in meinem Mund so eine Art Sicherheitsventil eingebaut, sodass, wenn ich meine innere Wahrheit fröhlich herausposaune, alles verzerrt und unwahr klingt. I don’t know!
    Ich habe auf dem Weg eine ganz naive

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