Ich Bin Dann Mal Weg: Meine Reise Auf Dem Jakobsweg
siebzehnjährige Alexandra im Krankenhaus. Ihr Zustand ist katastrophal. Zwei Stunden bin ich bei ihr. Für mehr reicht ihre Kraft nicht. Ich bin schon nach fünf Minuten am Ende und verkrampft, unspontan, ängstlich und weiß überhaupt nicht, wie ich mit dem Mädchen reden soll. Als ich sie frage, was sie denn machen würde, wenn sie aus dem Krankenhaus käme, sagt sie: »Den Führerschein würde ich machen und mit zweihundertachtzig über die Autobahn rasen.« Davon träumt sie. Beim Autofahren denke ich oft an Alexandra und gebe richtig Gas und genieße es. Ich glaube, ihr hat es Kraft gegeben zu sehen, dass ich nur ein schwaches Menschenkind bin. Mir hat sie Kraft gegeben, weil ich in ihr einer richtigen Heldin begegnet bin.
Ein weiteres Mal eröffne ich das Sommerfest der Aids-Station im Frankfurter Uniklinikum. Vorher führe ich ein Gespräch mit dem Krankenhausseelsorger und bitte ihn, mir einen Rat zu geben, wie ich denn diese Eröffnung gestalten solle, und er sagt nur: »So, wie Sie das immer machen.«
Die Patienten, die noch in der Lage sind, ihre Zimmer zu verlassen, werden also in das liebevoll geschmückte Foyer der Station geschoben. Es ist ein wundervoller Sommertag und man kann vom Foyer in den saftig grünen Park sehen. Vor mir sitzen Frauen und Männer in den unterschiedlichsten Stadien dieser heimtückischen Krankheit. Einige sind bereits schwer demenzkrank und haben das Vollbild von Kaposi, einem wuchernden Hautkrebs, entwickelt. Ihre Gesichter und Körper sind von der Krankheit zerstört und gezeichnet.
Ich stehe auf der zur Bühne umgestalteten Treppe und blicke auf die Menschen in ihren Rollstühlen und Betten. Einige sind von Verwandten und Freunden begleitet, aber die meisten sind allein. Das Stationspersonal gibt sich alle Mühe, jedem hier einen guten Nachmittag zu bereiten. Einer der Patienten schluchzt die ganze Zeit schrecklich laut und es zerreißt mir innerlich das Herz. Ich stehe auf dieser Treppe wie ein Depp.
Soll ich denn sagen: »Gott, ich hasse dich für das, was diese Menschen durchmachen!« Stattdessen sage ich – keine Ahnung wie – irgendwas Launiges. Am Anfang kann ich nur die Schwestern und die Ärzte ansehen, aber irgendwann traue ich mich dann auch den Patienten in die Augen zu schauen und es entsteht so etwas Ähnliches wie eine gute Stimmung, nur viel feiner und behutsamer, als ich es gewohnt bin.
Ich fühle mich trotzdem weiter schrecklich. Hinterher spreche ich mit einigen Patienten, die sich wirklich sehr über meine Anwesenheit freuen. Ein sehr junger Mann im Rollstuhl tröstet mich, indem er mit mir seine Späßchen macht: »So’n krankes Publikum haste auch nicht oft, was?«
Was mich sehr freut, sind die Aussagen zweier Mütter, die mir erklären, dass mein öffentliches Bekenntnis zur Homosexualität auch dazu beigetragen hätte, dass sie sich mit ihren Söhnen, wie es sich gehört, versöhnt hätten. Auch diesen Tag habe ich vollkommen verdrängt, aber heute kommt alles wieder hoch.
An einem Tag, an dem einem solche Geschichten wieder durch den Kopf kreisen, will man einfach nur alleine sein und verstehen, warum man sie erlebt hat und wie man sie endgültig in sein Leben einzuordnen hat.
Erkenntnis des Tages:
Meine Schwäche ist auch meine Stärke.
1. Juli 2001 – León
Auf der Terrasse des Hotels gönne ich mir heute Morgen ein fürstliches Frühstück und vermisse dabei schmerzlich ein Gespräch. Wie halten die anderen Pilger das bloß aus? Wenn ich nicht bald einen Pilger kennen lerne und mit ihm gemeinsam laufe, breche ich frustriert ab. Über dreihundert weitere Kilometer bewältige ich so nicht mehr. Ich möchte richtige Freunde gewinnen und mich jetzt endlich einmal mit jemandem über mehrere Tage hinweg austauschen. Noch nie in meinem Leben war ich bisher so lange alleine und das, was mir noch vor ein paar Tagen am Alleinsein gefallen hat, geht mir langsam gehörig auf den Keks. Mir mangelt es an Kommunikation und dieses Tagebuch reicht mir nicht mehr und redet nicht mit mir. Die schönen intensiven Gespräche hier und da sind nicht mehr genug. Es ist frustrierend, León ist wunderschön und macht Lust auf Leben, aber ich kenn hier kein Schwein! Gestern hätte ich doch mit Tina und Evi essen gehen sollen, aber da hatte ich keine Lust dazu; dafür jetzt umso mehr.
Die Stadt ruft und so trabe ich von dem Wunsch nach intensiver menschlicher Begegnung beseelt in die quirlige Altstadt. Das Wetter ist herrlich und ohne Rucksack
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