Ich bin der Herr deiner Angst
jetzt zitterte seine Stimme. «Aber nie… niemals
so was
.»
«Wie es aussieht, hat irgendjemand im Laufe der vergangenen Nacht die Grabstätte neu belegt», erklärte Rabeck. «Jedenfalls hatte es den Anschein. Ausgehoben und wieder verfüllt. Und der Name …»
«Stand im Telefonbuch.» Cornelius hob ein Smartphone. «Gemeldet hat er sich nicht, als ich durchgeklingelt hab. Also sind wir hingefahren. Wenn er trotzdem da ist, haben wir uns gedacht, kann er nicht … na ja …» Ein Nicken zu der Grube, in der sich einer der beiden Uniformierten jetzt stöhnend aufrichtete. «… dann kann er nicht
da drin
sein.»
«Wir haben den Sarg», sagte der Uniformierte. «Sieht neu aus.»
«Aufmachen!», gab Rabeck Anweisung.
«Warten Sie!» Der Friedhofsoffizielle löste sich aus seiner Starre, kam auf unsicheren Beinen an den Rand der Grube. Der Mann war uralt, stellte Albrecht jetzt fest. Selbst dem Tod näher als dem Leben.
Steif beugte der Alte sich vor. «Er ist nicht plombiert. Den kriegen Sie auf.»
Einer der beiden Beamten kletterte nach oben, warf seinem Kollegen ein Plastikseil zu, das der Mann in der Grube um die Beschläge des Sargs führte, bevor er sich ebenfalls in die Höhe stemmte.
Cornelius legte dem alten Mann einen Arm um die Schultern und dirigierte ihn vorsichtig ein paar Schritte weg.
Gut so, dachte Albrecht. Ein Toter war mehr als genug.
Mit angehaltenem Atem beobachtete er, wie die beiden Uniformträger sich mit ihrem Gewicht in das Seil stemmten. Eine Sekunde lang geschah nichts, dann löste sich der schwere Deckel aus seiner Position. Erde rieselte nach und …
«Verfluchte Hölle!»
Horst Rabeck war vermutlich seit einer Zeit im Dienst, zu der Jörg Albrecht noch zur Schule gegangen war.
Doch er sprach die Worte aus, die dem Hauptkommissar selbst auf der Zunge lagen.
Mit dem Unterschied, dass Albrecht nicht im Stande war, sie hervorzubringen.
Hartmut Möllhaus. Der Mann, dem er vor knapp zwölf Stunden zum ersten Mal begegnet war. Mit übereinandergeschlagenen Beinen hatte der Professor auf seinem Büroteppich gesessen, auf dem Gesicht ein Ausdruck beglückten yogihaften Friedens.
Das Gesicht war kaum wiederzuerkennen.
Erstarrt in einer Fratze blinder Verzweiflung, die toten Augen in Panik geweitet, den Mund geöffnet zu einem Schrei der nackten Angst, den der Tod selbst abgeschnitten hatte.
Doch es konnte nicht schnell gegangen sein. Die Hände des alten Mannes waren zu Klauen verkrümmt, die Finger hatten sich an der Innenseite des Sargs blutig gekratzt.
Der Sarg. Albrechts Augen verharrten auf dem Bild. Seine Zunge wollte ihm noch immer nicht gehorchen, doch nichts auf der Welt konnte seinen Verstand abschalten, der die entscheidenden Verbindungen herstellte, noch während Rabeck mit brüchiger Stimme eine gewisse Edith informierte, vermutlich das örtliche Pendant zu Martin Euler.
Der Täter war in der Lage, binnen kürzester Zeit einen Sarg zu organisieren. Der Entschluss, Möllhaus zu töten, konnte erst gestern Abend gefallen sein. Und diesmal stand fest, dass er unmöglich allein gehandelt haben konnte. Einen Sarg samt Inhalt in die Tiefe zu lassen: Dafür brauchte man zwei Personen, mindestens.
Albrecht brauchte nur Sekunden, um die Fäden zwischen den neuen Objekten im Raum der Ermittlung zu knüpfen.
Der Täter hatte einen Fehler gemacht.
Das war die eine Möglichkeit.
Oder aber er fühlte sich dermaßen sicher, dass es ihm kaum ein müdes Schulterzucken wert war, wenn Jörg Albrecht diese Details aufgingen.
Er lässt uns diese Spuren ganz bewusst erfassen, dachte der Hauptkommissar. Sein Blick hatte sich an den blutigen Rillen in der Innenseite des Sargdeckels festgesaugt. Spuren, die so deutlich sind, dass jeder sie erkennen muss. Die Presse, die Öffentlichkeit.
Lebendig begraben.
Die Urangst des Menschen.
Eine weitere Windung, um die die Spirale des Schreckens angezogen, der Druck auf die Ermittlungen erhöht wurde.
Auf Hauptkommissar Jörg Albrecht.
Doch wenn es angesichts eines solchen Schreckens überhaupt möglich sein sollte, irgendetwas Positives zu erkennen: Der Tatort lag zweihundert Kilometer von Hamburg entfernt.
Wenigstens war die Zecke aus dem Spiel.
***
«Das war ernst gemeint», bemerkte Joachim Merz, als ich mir einen Löffel Marmelade nahm.
«Was?», fragte ich. Das hatte nichts mit Flirten zu tun. Ich wollte es wirklich wissen.
«Beides.» Sein Brötchen lag fertig bestrichen vor ihm auf dem Teller. Frischkäse und ein
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