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Ich bin der letzte Jude

Ich bin der letzte Jude

Titel: Ich bin der letzte Jude Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chil Rajchman
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meinem Schmerz und weine über das, was ich
durchgestanden habe. Neben mir stöhnt ein anderer genauso. Ich frage, wer er
ist. Er kommt aus Cz¸estochowa und heißt Jankl. Wir machen uns bekannt, und er
teilt mir ein Geheimnis mit: Er sei schon seit zehn Tagen hier. Niemand wisse
es, denn die Leute kennen sich nicht. Es sei äußerst selten, dass jemand so
lange durchhalte wie er. Täglich würden mehrere Dutzend Häftlinge erschossen
und durch andere aus frischen Transporten ersetzt, damit wir uns nicht
kennenlernen. Er erzählt mir noch, dass zwei Tage zuvor über hundert Arbeiter
erschossen worden seien. Ich erfahre von ihm auch, dass verloren sei, wer im
Gesicht so verletzt wird, dass man gekennzeichnet ist. Ich solle also sehr aufpassen
und mein Gesicht immer vor Schlägen schützen. Ich erzähle ihm, dass ich
geschlagen worden bin. Er macht sich über mich lustig, das sei für ihn nichts
Neues, er sei schon daran gewöhnt. Er stöhnt bei jedem Wort: »Oj, alles tut mir
weh.«
    Ich schlage ihm vor, dass wir gemeinsam an der Trage arbeiten. Er
lehnt das ab, weil er wegen mir, der ich mich noch nicht gut auskenne, Gefahr
laufen würde, mehr Schläge einzustecken. Ich flehe ihn an und verspreche ihm,
alles genau so auszuführen, wie er es mir sagt. Er willigt ein und erklärt,
dass ich mich morgen beim Appell ganz in seiner Nähe aufstellen soll, denn wenn
alle zur Arbeit rennen, sei die Hölle los, und wer ohne Partner bleibe, bekomme
die Peitsche.
    Wir sprechen noch einen Augenblick, dann schläft mein Kamerad Jankl
ein, trotz der harten Holzbretter. Ich liege neben ihm, mein ganzer Körper tut
mir weh. Ich weiß nicht, wie ich morgen früh überhaupt aufstehen soll. Ich
liege da und denke: Wo bin ich eigentlich? Ich bin in der Hölle, in einer Hölle
voller Teufel. Wir warten auf den Tod, der jeden Augenblick kommen kann,
bestenfalls in ein paar Tagen. Und um diese paar Tage zu überleben, müssen wir
unsere Hände schmutzig machen und die Verbrecher bei ihrem Werk unterstützen.
Nein, wir dürfen das nicht tun!
    Ich dämmere vor mich hin, ich träume von meiner ehrlichen,
fürsorglichen Mutter, die vor fünfzehn Jahren gestorben ist. Ich war damals
fünfzehn Jahre alt. Sie ist jung gestorben, sie war achtunddreißig, als sie uns
entrissen wurde und uns verließ. Auf einen Tod wie den hier warten? Wäre es für
uns alle nicht besser gewesen, wir hätten nichts davon erlebt. Wie gut ist es,
dass meine Mutter diese Qualen, das Getto, die Entbehrungen, den Hunger – und
schließlich Treblinka nicht erlebt hat, dass sie nicht kahl geschoren, dass sie
nicht vergast und zusammen mit zehntausend anderen in ein Massengrab geworfen
worden ist. Ich bin glücklich, dass sie das nicht erlebt hat.
    Ich habe Kopfschmerzen und wache auf. Mir tut alles weh,
und ich kann nicht mehr liegen bleiben. Ich versuche mich umzudrehen und stoße
aus Versehen an meinen Kameraden Lejbl. Er fährt aus dem Schlaf und ruft: »Mörder,
was willst du von mir? Mir tut alles weh!« Ich beruhige ihn, und er antwortet
mir mit einem Seufzer: »Oj … oj …« Ich achte jetzt darauf, ihn nicht mehr zu
berühren. Ich versuche wieder einzuschlafen, aber es gelingt mir nicht. Die
Nacht kommt mir wie ein Jahr vor, und endlich ertönt der Schrei: »Aufstehen!«
Alle stehen, ohne Zeit zu verlieren, auf, und jeder drängt so nah wie möglich
zur Tür, die noch geschlossen ist.
    Vor meinen Augen baumelt ein Körper: In der Nacht hat sich ein Mann
erhängt. Ich mache meinen Nachbarn darauf aufmerksam, aber er zeigt mir, dass
auch ein Stück weiter zwei Männer hängen. Das seien sogar weniger als
gewöhnlich, erzählt er mir, jeden Tag würden sie mehrere wegschaffen, und niemand
achte mehr auf diese Kleinigkeit.
    Ich betrachte die Erhängten und beneide sie darum, dass sie schon
Ruhe haben. Es dauert nicht lange, und die Tür wird aufgerissen und wir werden
zur Küche getrieben. Wir bekommen Kaffee. Ich habe das Stück Brot vom Vorabend
aufgehoben. Die meisten trinken nur schwarzen Kaffee. Es schlägt halb sechs.
Ein Schrei ist zu hören: »Antreten!« Wir rennen raus.
Jeder sucht einen Mitträger, mir gelingt es, bei meinem Nachbarn der letzten
Nacht zu stehen. Was für ein Glücksfall!

10
    Wir marschieren in Kolonnen zur Arbeit.
Der blutige Trunk meines Nachbarn.
Der Sprung in die tiefe Grube.
    Wie gewöhnlich sind wir wieder schnell gezählt. Das Tor
geht auf, und wir gehen hinaus: zuerst der Maschinentrupp, das sind die
Schlosser. Sie warten die

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