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Ich bin die, die niemand sieht

Ich bin die, die niemand sieht

Titel: Ich bin die, die niemand sieht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Berry
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deinem Anblick erröten? Die Sünde zieht ihre ganz eigenen Strafen nach sich. Doch das macht nichts. Sie war es wert.
    Du hast dich umgezogen, bist frisch gekämmt und hellwach.
    »Sieht aus, als könnten Sie Hilfe brauchen«, sagst du zu Horace und Doktor Brands.
    »Das ist sehr freundlich von dir«, bemerkt der Schmied. Der Doktor sagt immer noch nichts. Du wirkst wie ein Kind, das die Gunst seiner Eltern durch Hilfsbereitschaft gewinnen will.
    Du blickst dich um. Dein Blick bleibt einen Augenblick lang an mir hängen. Ich habe das unbändige Bedürfnis, zu lachen. Doch an solch einem Tag zu lachen wäre sehr gefühllos meinem Bruder gegenüber!
    Dr. Brands sieht dich kurz an, dann öffnet er seine Tasche. Mehr Aufmerksamkeit wird er dir nicht schenken und mehr erwartest du offensichtlich auch nicht.
    Dank Mutter ist Darrel bewusstlos. Der Doktor macht sich an seiner Tasche zu schaffen, schärft gebogene Klingen und inspiziert seine Instrumente. Horace erhitzt das Beil im Feuer. Dabei dreht er es langsam, als röste er einen Fasan. Du gibst Dr. Brands deinen Ledergürtel. Er bindet ihn ganz fest um Darrels Oberschenkel. Dann steckt er Darrel einen Holzblock in den Mund, auf den er beißen soll.
    Als endlich alles vorbereitet ist, blickt Dr. Brands Mutter und mich an.
    »Ihr Frauen wartet am besten draußen, so weit weg vom Haus, dass ihr nichts hört.«
    »Ich halte das aus«, sagt Mutter. Sie steht ganz gerade da. Sie wirkt geradezu majestätisch und hat doch noch die Figur einer jungen Frau. »Ich muss für meinen Sohn da sein.«
    Sie ist großartig. Melvin Brands wendet den Blick ab. Es ist der Gedanke an seine Frau, der ihn wegsehen lässt.
    »Ich bin freiwillig hier, Mrs Finch«, sagt er zur Wand. »Ich werde Ihnen meinen Besuch nicht in Rechnung stellen. Deshalb bestehe ich darauf, dass meine Bedingungen eingehalten werden. Das Letzte, was wir hier brauchen, ist, dass Sie ohnmächtig oder hysterisch werden.«
    Mutter atmet scharf ein. Doch unsere Armut wiegt schwerer als ihr Stolz. Sie dreht sich auf dem Absatz um und marschiert aus der Tür. Schnell folge ich ihr.
    XLIV
    Es ist ein grauer Tag. Die Wolken hängen tief. Der Wind treibt das letzte vertrocknete Laub über die Weide.
    Mutter geht zuerst in den Garten. Hier ist nichts mehr außer vertrockneten Stängeln und dem Wurzelgemüse für den Frühling. Sie entsamt die groß und hölzern gewordenen Kohl- und Karottenpflanzen, steckt die Samen ein, rupft tote Pflanzen aus der Erde und arbeitet sie zusammen mit Laub in den Boden ein. Ich helfe ihr.
    Ein Schrei von Darrel lässt uns innehalten. Weiß zeichnen sich Mutters Knöchel ab, als sie die Hacke umklammert.
    Wir ziehen uns an den Rand unseres Landes zurück, wo die Grenze zwischen Feld und Wald verläuft. Wortlos sammeln wir Feuerholz in unseren Schürzen.
    Darrels unablässiges Wimmern ist weit genug entfernt. Wir hören es kaum. Fast klingt es, als sei er wieder ein Baby und bettele um eine Scheibe Brot. Wie leicht ließ sich das ignorieren.
    Ich konzentriere mich auf die steifen, brüchigen Zweige. Die winzigen, knubbligen Pinienzweige eignen sich am besten zum Feuermachen.
    Als unsere Schürzen gefüllt sind, zögern wir. Wer wird zuerst zum Holzstapel gehen? Noch will keine von uns sich in die Nähe des Hauses wagen.
    Dann hören wir das dumpfe Geräusch einer Klinge, die sich tief ins Holz gräbt, und einen gurgelnden Schrei, schlimmer als jeder andere, den Darrel je ausgestoßen hat.
    Mutter lässt das Holz fallen und rennt mit wehenden Schürzenbändern ins Haus.
    Das Schreien nimmt kein Ende.
    Ich folge ihr, behalte aber mein Holz.
    Du versuchst, meine Mutter an der Tür aufzuhalten. Dein Gesicht ist heiß und rot, auf deinem Hemd sind Blutflecken.
    Sie will dich zur Seite schieben, aber du stehst wie eine Wand. Sie schlägt auf dich ein, doch du weichst nicht zurück.
    Wut steigt in mir hoch.
    Wut auf dich.
    Darrels Schreie werden zu fürchterlichem Schluchzen.
    Ich weiß nicht wohin mit meinen Gefühlen. Wer bist du, dass du meiner Mutter den Zutritt zu ihrem eigenen Haus verwehrst? Ihr, die ihren Sohn trösten will? Jetzt erreiche auch ich das Haus und entledige mich der Ladung Holz.
    »Es ist entsetzlich, Mrs Finch.«
    Du musst sie nicht anschreien.
    »Brand versucht gerade, die Wunde zu schließen. Darrel muss das jetzt aushalten. Es muss getan werden.«
    Mutter weint inzwischen so laut, dass ich Angst bekomme. So habe ich sie noch nie gesehen. Ich verstehe nicht einmal, was sie sagt.

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