Ich bin die Nacht
Vorhin hatte er noch gehofft, nie mehr einen Fuß in dieses Gebäude setzen zu müssen. Es war ein finsterer Ort, den er am liebsten vergessen hätte. Und nun musste er ihn erneut betreten. Doch sein Verlangen, die Wahrheit aufzudecken, war stärker als sein Widerwille.
Aus der Ferne näherten sich Scheinwerfer. Kurz darauf fuhr der Wagen in die Einfahrt und hielt. Der Sheriff stieg aus. »Na, mein Junge?«, fragte er statt einer Begrüßung. »Was ist wichtig genug, um mich von meinem Feierabendbierchen abzuhalten?«
»Ich habe viel nachgedacht, Sheriff. Über das, was hier passiert ist. Ich hatte etwas übersehen. Jetzt weiß ich, was es war.«
»Und was?«
»Ich zeige es Ihnen. Kommen Sie.«
Er führte den Sheriff durch das Haus in die Küche.
»Als ich oben vor Maureens Leiche stand, wurde ich so wütend, dass ich wie ein Verrückter durchs Haus gerannt bin. Deshalb ist mir nicht aufgefallen, dass die Hintertür von innen abgeschlossen war, obwohl blutige Fußabdrücke dorthin führten. Das könnte bedeuten …«
»Dass jemand anders vor Ihnen im Haus gewesen ist und die Tür abgeschlossen hat«, fiel der Sheriff ihm ins Wort und machte ein nachdenkliches Gesicht. »Oder es bedeutet überhaupt nichts.« Er wandte sich wieder Marcus zu. »Nehmen wir an, es war tatsächlich noch jemand im Haus. Wer außer dem Täter hätte nicht auf der Stelle den Mord gemeldet, wenn er ins Haus gekommen wäre? Ein Komplize? Wer immer es war, er muss sehr darauf geachtet haben, nicht in das Blut zu treten, das der Killer überall hinterlassen hatte. Wir haben keine anderen Spuren gefunden, nur die des Mörders und Ihre.«
Marcus blickte nachdenklich aus dem Küchenfenster auf den Hof hinter dem Gebäude. Dabei bemerkte er etwas Merkwürdiges. Er ging zur Hintertür, entriegelte sie und trat hinaus. Der Sheriff folgte ihm.
Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne tauchten den Horizont in leuchtende Rot- und Purpurtöne, ein Anblick von majestätischer Schönheit. Unter anderen Umständen hätte Marcus das Schauspiel bewundert, aber jetzt galt seine Aufmerksamkeit etwas anderem.
»Haben Sie sich den Schuppen hinter dem Haus angesehen, Sheriff?«
»Ja, natürlich. Aber da haben wir auch nichts gefunden.«
»Kennen Sie das Klischee von dem Mörder, den es wieder an den Ort seiner Tat zieht? Diesmal stimmt es vielleicht.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»In dem Schuppen brennt Licht. Wenn Sie es nicht angemacht haben – ich war’s nicht. Und sonst wohnt hier weit und breit niemand.«
Der Sheriff trat neben Marcus und blickte nach draußen. »Verdammt, Sie haben recht.«
***
Marcus und der Sheriff nutzten jede Deckung, als sie sich dem Schuppen näherten. Der Sheriff bedeutete Marcus mit einer Handbewegung, welche der beiden Türen er benutzen sollte.
Marcus nickte und bewegte sich auf die Tür zu, wobei er sich innerlich wappnete auf das, was ihm bevorstand. Sein Puls raste. Er glaubte zu spüren, dass ihn auf der anderen Seite der Tür eine mordlüsterne Bestie erwartete. Und nun lag es an ihm und dem Sheriff, diese Kreatur in die Finsternis zurückzujagen, aus der sie gekommen war.
Noch einmal atmete er durch, dann drang er in den kleinen Werkzeugschuppen ein, verharrte lautlos und ließ den Blick schweifen.
Er hatte sich geirrt.
Hier war niemand.
Der Schuppen war größer, als man glauben mochte, wenn man ihn von außen sah. Das Innere bestand aus einem offenen Raum mit mehreren Reihen hoher Regale, in denen Werkzeuge und Material zur Holzbearbeitung und, wie Marcus vermutete, zum Schlachten aufbewahrt wurden. Wer sich vor Entdeckung schützen wollte, fand hier geeignete Verstecke.
Eine Unheil verkündende Stille lag über dem Schuppen. Allem haftete der Geruch nach Öl und Staub an.
Vorsichtig prüfte Marcus jede Regalreihe. Mitten im Schuppen stand eine Werkbank. Marcus blickte um die Ecke eines Regals und sah weitere Tische und Werkzeuge.
Langsam bog er um die Ecke.
Und sah, dass sein Instinkt ihn doch nicht getrogen hatte.
Ein Mann mit kalten grauen Augen saß neben einem der Tische.
Das Gesicht des Mannes hatte Marcus erst vor Kurzem im Fernsehen gesehen. Es gehörte Francis Ackerman, dem Serienkiller.
Der Mörder war tatsächlich an den Schauplatz des Verbrechens zurückgekehrt.
Allerdings anders, als er es sich vorgestellt hatte.
Zweiter Teil
Der Wolf und der Hirte
10.
Marcus stand da wie erstarrt, gebannt vom hypnotischen Blick des Psychopathen.
Ackerman war mit Handschellen und Fußketten
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