Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich bin die Nacht

Ich bin die Nacht

Titel: Ich bin die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ethan Coss
Vom Netzwerk:
an den Stuhl gefesselt. Ein alter Lappen war ihm mit Klebeband vor dem Mund befestigt worden und verhinderte, dass er um Hilfe rief. In seinem geschwollenen Gesicht klebte getrocknetes Blut.
    Marcus kam der Begriff »Südstaatengerechtigkeit« in den Sinn. Und nachdem er das Werk dieses Psychopathen gesehen hatte, fiel ihm kaum ein überzeugendes Argument ein, das dagegen sprach. Auge um Auge. Legte man diesen Spruch aus der Bibel zugrunde, hatte der Mann auf dem Stuhl verdient, was man ihm angetan hatte.
    Andererseits, wo sollte man die Grenze ziehen? Wann wurde die Bestrafung eines Mörders selbst zu einem Mord?
    Marcus rechnete damit, dass der Sheriff genauso erstaunt reagieren würde wie er, doch als sich der Sheriff näherte, schien ihn der Anblick des Gefesselten keineswegs zu überraschen. Er hielt seine Waffe locker in der linken Hand. Seine Haltung passte so gar nicht zu einem Mann, der in einen Raum vordringt, in dem sich ein Mordverdächtiger aufhalten könnte, geschweige denn ein berüchtigter Serienkiller.
    Es sei denn, der Sheriff hatte gewusst, was er vorfinden würde.
    Marcus blickte ihn an. »Anscheinend haben Sie hier einen dicken Fisch an der Angel«, sagte er. »Behalten Sie ihn, oder werfen Sie ihn zurück?«
    »Ich glaube, diesen Fisch behalte ich«, erwiderte der Sheriff.
    »Würden Sie mir erklären, was hier los ist?«
    Ihre Blicke trafen sich. In diesem Moment erkannte Marcus die Wahrheit.
    »Ich wette, Sie waren ein guter Cop, Marcus«, sagte der Sheriff. »Sich sein Geld als Polizist zu verdienen, ist nicht leicht, habe ich recht? Natürlich habe ich recht. Es ist einer der schwierigsten und beschissensten Jobs der Welt. Die Leute zählen darauf, dass man für Sicherheit sorgt. Aber manchmal ist die Welt ein Ort voller Boshaftigkeit. In der Dunkelheit gibt es Wölfe, die nur darauf warten, dass sich einer von der Herde absondert. Dann fallen sie über ihn her und zerfleischen ihn. Und zu wem kommen die Leute gerannt? Zu uns. Zur Polizei. Zu ganz normalen Männern und Frauen, die den Eid geleistet haben, andere Menschen zu schützen und ihnen zu dienen.«
    Während der Sheriff sprach, trat er näher an Marcus heran. »Wir sind aber keine Ritter in funkelnder Rüstung. Wir können nicht einfach losreiten und die Bestien erschlagen. Wissen Sie, Marcus, ich betrachte mich nicht als Hüter des Gesetzes. Für mich ist ein Cop mehr wie ein Hirte, der die Herde beschützt. Wir vertreiben die Wölfe von dieser Herde.«
    »Tun Sie das auch hier? Die Wölfe vertreiben?«
    »Ich erwarte nicht, dass Sie das verstehen. Aber in gewisser Weise stimmt es. Ich habe schon viele Verbrecher festgenommen, die glaubten, sich der Gerechtigkeit entziehen zu können. Aber wahre Gerechtigkeit ist nicht blind, Marcus. Sie findet einen, egal wohin man auch flieht. Und manchmal liegt der Fall so eindeutig, dass es keine Geschworenen, keine Verhandlung und keine Urteilsverkündung braucht.«
    »Sondern?«, fragte Marcus.
    »Die Bestrafung«, antwortete der Sheriff. »Wir haben alle Formalitäten weggelassen und sind direkt zur Bestrafung übergegangen.«
    Marcus konnte nicht fassen, was er da hörte. »Diese Entscheidung liegt nicht bei Ihnen. Sie können doch nicht einfach …«
    »Doch, kann ich«, fiel der Sheriff ihm ins Wort und kam noch näher. »Was wissen Sie denn schon.«
    »Sie können das Gesetz nicht selbst in die Hand nehmen. Sie …«
    »Halten Sie die Schnauze!«, fuhr der Sheriff ihm über den Mund. »Ich habe einen Wagen gefunden, den dieser Verrückte gestohlen und stehen gelassen hatte. Ich wusste, dass er zu Fuß unterwegs war, also setzte ich die Hunde auf seine Spur und verfolgte ihn bis hierher. Ich habe ihn dabei erwischt, wie er das Messer schärfte, mit dem er Maureen Hill abgeschlachtet hatte. Offenbar wollte er, dass es hübsch scharf ist für das nächste Opfer, dem er seine Aufwartung machen wollte. Ich habe den Mistkerl überrascht, bewusstlos geprügelt und gefesselt. Als ich dann wieder ins Haus ging, muss ich die Hintertür abgeschlossen haben. Die Macht der Gewohnheit, nehme ich an.«
    Marcus wusste nicht, wie er moralisch bewerten sollte, was der Sheriff tat, aber das spielte keine Rolle. Denn eines wusste er ganz sicher: Der Sheriff hatte nicht die Absicht, ihn lebend vor hier wegkommen zu lassen.
    »Kommen Sie nicht näher«, sagte er.
    Der Sheriff beachtete ihn nicht. »Ich wollte den Mord an Maureen vertuschen und ihren Tod wie einen Umfall aussehen lassen. Und für unseren Freund

Weitere Kostenlose Bücher