Ich bin die Nacht
bin ein Soldat. Und du kannst mir glauben, wir stehen im Krieg. Ich verabscheue, was aus meinem Leben geworden ist, aber manchmal müssen gute Männer schlimme Dinge tun. Das ist ein notwendiges Übel. Wir alle haben Opfer zu bringen, ich eingeschlossen. Es tut mir leid, dass ihr beide in diese Sache hineingezogen wurdet.«
Der Sheriff wandte sich von ihnen ab und blickte in die Ferne.
Marcus wusste, dass er ein letztes Mal abwog, welche Möglichkeiten ihm blieben. Er wusste auch, zu welchem Ergebnis der Sheriff gelangen würde: Sobald Paul Phillips, der Präsidentschaftskandidat, tot war, käme es zu einer Untersuchung – nicht nur durch staatliche Stellen, die kontrolliert werden konnten, sondern auch von außen. Wahrscheinlich engagierte die Familie Phillips ein ganzes Heer von Privatdetektiven. Möglicherweise wurde ein unabhängiger Ermittler ernannt. Man würde die Aktivitäten des mutmaßlichen Attentäters zurückverfolgen. Maggie würde vernommen werden. Konnte der Sheriff darauf vertrauen, dass sie den Mund hielt? Wohl kaum. Die sicherste Lösung wäre, sie umzubringen. Sie am Leben zu lassen konnte sich als kostspieliger Fehler erweisen. Aber würde der Sheriff tatsächlich seine eigene Tochter ermorden?
In diesem Moment wurde Marcus klar, dass Maggies Verbindung zu ihm ihren Tod bedeutete. Es war genau wie bei den Brubakers.
Noch mehr Blut an meinen Händen.
Er wusste, was er tun musste.
Zwar hatte er geschworen, nie wieder zu töten, aber blieb ihm eine andere Wahl? Gute Vorsätze waren wie ein rutschiger Abhang, auf dem man leicht ausgleiten konnte. Die Straße zur Hölle war mit guten Absichten gepflastert.
Dann dachte er an Ackerman und dessen Gefasel über Schicksal und Bestimmung. Vielleicht war ihm, Marcus, tatsächlich bestimmt zu töten, um zu retten.
Fest stand jedenfalls, dass noch mehr Unschuldige starben, wenn er nicht handelte.
Der Deputy trat mit gezogener Waffe hinter ihn. Augenblicke später spürte Marcus den kalten Kuss der schallgedämpften Mündung im Nacken.
Es wird Zeit.
Marcus mit der Mündung der Pistole zu berühren, war ein Fehler gewesen. Der Deputy hatte ihm soeben verraten, wo genau sich die Waffe befand. In den allermeisten Fällen wäre dieses Wissen für einen Gefangenen, dem die Hände auf den Rücken gefesselt waren, unerheblich gewesen. Doch Marcus hatte sich bereits im Kofferraum von den Handschellen befreit, indem er den Dorn von Maggies Gürtelschnalle als Keil zwischen Zahnrasten und Sperrklinke geschoben hatte. An der rechten Hand hatte Marcus die Handschellen in der weitesten Stellung wieder geschlossen, sodass er sie jederzeit abstreifen konnte.
Der Sheriff schaute einen Augenblick zu Boden, als überlege er sich seine nächsten Worte sorgfältig. Schließlich sagte er: »Weißt du, wo dein Problem liegt, Marcus? Du zögerst immer. Du weißt, welchen Weg du gehen musst, aber du zögerst jedes Mal, ihn einzuschlagen.«
Marcus blickte ihm fest in die Augen. »Wird nicht wieder vorkommen, Sheriff«
Im gleichen Augenblick fuhr er zum Deputy herum. In einer flüssigen Bewegung rammte er dem Mann einen Ellbogen gegen die Schläfe und entriss ihm die Pistole. Während der Deputy zu Boden ging, zielte Marcus.
Diesmal zögerte er nicht.
Er jagte dem Sheriff sechs Kugeln in die Brust. Rote Blumen erblühten vorn an seiner Uniformjacke. Vor Schmerz und Schock riss er die Augen auf. Dann aber schien es, als würde sein Blick weich, und als drückte seine Miene etwas ganz anderes aus. Es war ein Ausdruck, der Marcus zutiefst erstaunte:
Zufriedenheit.
Der Sheriff kippte nach hinten und stürzte in das offene Grab.
55.
Marcus schwenkte die Waffe zum Deputy herum, doch der Mann war von dem Schlag bewusstlos.
Maggies Aufschrei schnitt wie ein Dolch aus Eis in sein Inneres. Er dachte an das, was sie im Kofferraum zuletzt zu ihm gesagt hatte. »Wenn es darauf hinausläuft … mit meinem Vater, meine ich. Er hat sich seinen Weg ausgesucht. Damit versuche ich wohl zu sagen … tu, was du tun musst.«
Aber das waren nur Worte gewesen. Ganz gleich, was der Sheriff verbrochen hatte, der Mann war nach wie vor ihr Vater. Vielleicht verstand sie ihn. Vielleicht vergab sie ihm. Tief im Innern aber wusste Marcus, dass sie jedes Mal, wenn sie ihn nun anblickte, den Mann sehen würde, der ihren Vater getötet hatte.
Schließlich versiegten ihre Tränen. Sie schluchzte nur noch leise. Wegen der Handschellen konnte sie nicht einmal die Hände vors Gesicht
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