Ich bin ein Mörder
der Typ noch mal aufgetaucht?«
Sebastian schüttelte den Kopf. War das nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Unentschlossen blies Mischa die Backen auf und ließ die Luft stoßweise entweichen. Es hatte keinen Sinn, Sebastian noch mehr Angst zu machen.
»Gehen wir mal davon aus, dass dein Vater recht hat und das nur ein Zufall war, okay? Dann ist das Letzte, was wir wissen, dass Markus zum Gotcha verabredet war.«
Sebastian ließ den Kopf hängen, seine Zustimmung konnte Mischa nur ahnen.
»Weißt du, wer die Ermittlungen leitet?«
»Frau Winkler«, nuschelte er unter den zotteligen Haaren hervor. Mischa klopfte ihm aufmunternd aufs Bein.
»Kopf hoch, Basti. Du rufst Frau Winkler jetzt an und erzählst ihr genau das, was du mir erzählt hast. Sie muss das wissen mit dem Spiel. Vielleicht weiß sie es auch schon«, schob er schnell nach. Er wusste, wie wichtig es für Basti war, vor seinem Bruder nicht als Verräter dazustehen. »Aber wir sollten auf Nummer sicher gehen. Wahrscheinlich ist gar nichts passiert. Aber wenn er sich im Wald verletzt hat und sich deshalb nicht meldet, dann müssen wir ihn schnell finden.«
* * *
An der Decke baumelten kitschige Kronleuchter, deren funkelnde Glaselemente sich bei jedem Luftzug drehten. Die Wände zierten Bilder in unterschiedlichen goldenen Rahmen; im Durchgang stand ein Klavier, daneben eine gut gefüllte Kuchentheke: ein Hauch plüschige Nostalgie. So richtig passend erschien Alexandra die Umgebung plötzlich nicht mehr. Auch wenn es die Vergangenheit war, die sie zu entschlüsseln versuchte. Im Café am Liebfrauenberg saß Alexandra in der Ecke am Fenster. Ihr gegenüber Frau Dr. Sophia Hübner-Seefelder, eine schlanke, mittelgroße Frau mit leicht schräg stehenden, grauen Augen. Das weizenblonde Haar fiel in weichen Locken über ihre Schultern und ließ sie jünger aussehen als sie sein konnte. Es hatte Alexandra erstaunt, dass sie einem Treffen sofort zustimmte. Sie selbst war sich nicht schlüssig, was sie damit noch bezweckte. Ihr Verstand sagte ihr, dass sie gut daran täte, Tobias endgültig aus ihrem Leben zu streichen, statt weiter in seiner Vergangenheit zu graben. Ihr Bauchgefühl sagte etwas anderes.
»Die Unzertrennlichen. So haben sie manche genannt. Oder auch die Unerträglichen. Je nachdem ob man sie zum Freund oder zum Feind hatte.«
Auf dem Tisch lag aufgeschlagen das Schuljahrbuch des Abitur-Jahrgangs 1986.
»Tobias, Kai und Dirk. Sie waren eine Herausforderung für jede Lehrkraft. Besonders Tobias. Seine Entwicklung beunruhigte uns. Er war hochintelligent, eigenwillig und sensibel. Unglaublich nachtragend. Seine Theorien verblüfften und bestürzten gleichermaßen. Sowohl inhaltlich als auch durch ihre Präzision. Wenn er jemanden fand, der sich auf eine Grundsatzdiskussion einließ, konnte das Stunden dauern. Das Verrückte war, dass man nie einschätzen konnte, ob der Standpunkt, den er vertrat, tatsächlich seine Meinung widerspiegelte, oder ob es nur die reine Lust am Streitgespräch war, die seine Position bestimmte. Für ihn gab es keine Wahrheit, die ewigen Bestand besaß. Er konnte heute die eine Ansicht und morgen die genau entgegengesetzte vertreten und fand jedes Mal stichhaltige Argumente. Plausibel nachvollziehbar, immer strittig, aber nie wirklich widerlegbar.«
»Genauso umstritten ist sein letztes Buch?« Alexandra versuchte, hinter die verschlossene Fassade zu sehen. Doch ihr Gegenüber fixierte die meiste Zeit einen Punkt an der Wand und vermied den Blick auf das Foto.
»Ja, genauso. Ich habe es gelesen. Alle seine Bücher. Er hatte sich zwischenzeitlich verändert. Aber dieses Buch … Es ist, als gehe er den Weg zurück. Es beunruhigt mich, dass er wieder in Frankfurt ist.«
»Wieso?«
Sophia Hübner-Seefelder hob die Hände, hilflos, fragend, legte sie dann vor den Mund und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Wirklich nicht. Die Zukunft ist noch offen.«
Alexandra zuckte zusammen. Für sie galt das wohl nicht mehr. Jetzt ist deine Zukunft geschrieben. Verschwinde, Bulle. Und dann sein Betteln auf dem Anrufbeantworter. Sie hatte keine Wahl, als mit ihren Nachforschungen weiterzumachen, wenn sie auch nur die geringste Chance haben wollte, ihn zu verstehen. Und gegen jede Vernunft wollte sie das immer noch.
»Macht Ihnen die Vergangenheit Angst?«
»Es ist lange her. Es ist nicht Angst, es ist …«, wieder schüttelte Sophia Hübner-Seefelder den Kopf. »Die meisten Schüler wählen das Fach
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