Ich bin ein Mörder
kopfschüttelnd und steckte das letzte Stück Pizza in den Mund.
* * *
Die Matten auf dem Boden federten unter den nackten Füßen. Mischa brauchte dringend eine Ablenkung. Sein Nacken fühlte sich steif an. Die Muskeln verhärtet zu einem brennenden Klumpen. Sebastian hatte mit Paula gesprochen. Es gab nichts, was er im Augenblick in dieser Sache tun konnte.
Aikido war genau das Richtige, um seinen Kopf zu leeren und zur Ruhe zu kommen. Als Andreas Schneider anrief, hatte er sofort zugesagt. Innere Harmonie und Beherrschung auftanken. Er hatte wieder gelesen und noch im Auto wälzte er die Gedanken weiter, konnte nicht abschalten. Dürrenmatts Kommissar sah den Zufall und die Unvollkommenheit des Menschen als Hindernis für das perfekte Verbrechen. Er glaubte, dass man mit Menschen nicht wie mit Schachfiguren operieren könne. Sein Gegenspieler versuchte genau das zu widerlegen. Sah seine Chance in den verworrenen menschlichen Beziehungen, die es unmöglich machen, alle Zusammenhänge zu durchschauen. Wer von beiden hatte recht? Konnte man diese Frage überhaupt eindeutig beantworten?
Im Umkleideraum versuchte Mischa, sich zu sammeln und mit dem Anziehen des Keiko-Gi die passende Geisteshaltung einzunehmen. Er schlüpfte in die weiße, weite Hose, schloss langsam die Jacke mit dem Stoffgürtel.
Ein Schachspiel. Ohne Brett. Gespielt mit lebenden Figuren, denen ihre Rolle zugewiesen, aber nicht mitgeteilt wird. Ausgeliefert und gefangen in einem perfide ausgelegten Netz. Unsichtbar und fein gesponnen.
Er schloss die Augen, atmete tief und bewusst in die Körpermitte und begab sich in die Übungshalle. Der junge Kollege mit den braunen Locken arbeitete seit einem halben Jahr im Revier. Ein Freikletterer, durchtrainiert bis in die Haarspitzen. Feingliedrig, freundlich und still. Genau deshalb trainiert Mischa gerne mit ihm. Auch Fred bot sich gelegentlich an, aber mit ihm buchte man immer auch eine One-Man-Talkshow.
Nach intensivem gemeinsamem Aufwärmen stellten sie sich in Ausgangsposition. Den Regeln entsprechend, verneigten sie sich leicht voreinander. Mischa übernahm die Rolle des Angreifers. Andreas machte sich bereit, die Angriffsenergie aufzunehmen.
Der Kommissar benutzte einen Mann, um den anderen zur Strecke zu bringen. Eine Vorgehensweise, die dem Prinzip des Aikido völlig widersprach. Mischas symbolischer Schlag mit der rechten Handkante gegen die linke Kopfseite traf ins Leere. Ein einfacher Ausweichschritt mit folgender Gegenbewegung. Andreas fing die Attacke geschmeidig ab. Ein gezielter leichter Stoß. Unsanft landete Mischa auf dem Rücken. Seine Energie war nur zu einem Bruchteil in den Angriff geflossen.
Abermals nahmen sie ihre Positionen ein. Verneigung. Anspannung. Mischa versuchte einen Haltegriff, mit beiden Händen an Andreas’ Ellbogen, dem dieser sich entziehen sollte.
Der Kommissar spielt falsch …
Mühelos brachte Andreas ihn aus dem Gleichgewicht und setzte den Hebel an. Wieder sah Mischa den Hallenboden unerwartet vor sich.
»Du bist unaufmerksam, was ist los?«
Mischa schüttelte sich verwirrt. »Nichts.«
Angreifer und Verteidiger bildeten beim Aikido ein Team, umsichtig und aufrichtig. Doch in Mischas Kopf war nur Platz für den gnadenlosen Angreifer, den unerbittlichen Schachspieler Dürenmatts. Genauso war auch Stockmann bereit zum skrupellosen Bauernopfer.
Nach dem dritten ungebremsten Aufschlag weigerte Andreas sich weiterzumachen. Erst als er sich anschickte, das Training ganz abzurechen, kam Mischa zur Besinnung.
»Warte! Tut mir leid. Ich war wirklich nicht konzentriert. Ich krieg das in den Griff, versprochen.« Skeptisch machte Andreas kehrt. »Gib mir ein paar Sekunden, mich zu sammeln. Dann tauschen wir die Rollen.«
Mit äußerster Willenskraft blockte Mischa alle weiteren Gedankengänge ab. Fixierte seinen Blick auf die weiße Hallenwand, bündelte seine Aufmerksamkeit. Er verspürte keine Lust, noch einmal das Gummiaroma der Matte einzuatmen. Die Verteidigung glückte ihm besser. Am Ende war auch Andreas wieder zufrieden mit dem Trainingsverlauf. Mit einer letzten Verbeugung bedankte Mischa sich und sie beendeten die Übung. Ordentlich faltete er den Anzug und verstaute ihn in der Sporttasche. Ein guter Weg. Mit einem gleichwertigen Partner.
Ein Kampf ohne Opfer. Besser als Schach. Dabei blieb am Ende immer nur ein König stehen. Die Frage war, wie viele Figuren vorher fallen mussten. Und welche. Eine beunruhigende Frage.
* * *
Er kauerte
Weitere Kostenlose Bücher