Ich bin ein Mörder
sich vor dem Jungen auf den Betonboden und löschte die Lampe. Lange konnte er ihn nicht mehr hier drinnen lassen. Die Luft wurde stickig, sauerstoffarm, angefüllt mit Angstschweiß und Uringeruch. Aber er konnte die Tür nicht offenlassen, wenn er ihn besuchte. Zu groß war die Gefahr, dass eines der Kinder vom Spielplatz herübergelaufen kam. Dann war die Mutter nicht weit. Immer nur wenige Schritte entfernt von den Kleinen.
»Ich werde dir etwas erzählen. Wie es ist, wenn sie dich wirklich kriegen. Wenn ihre Waffen nicht mit Farbpatronen schießen. Wie es ist, wirklich Angst zu haben.« Stille.
»Du sollst wissen, wie es ist, wenn plötzlich jemand hinter dir auftaucht, den du nicht erwartet hast.«
Unvermittelt drückte er dem Jungen den kalten Griff der Taschenlampe in den Nacken.
»Du spürst die Mündung der Pistole.«
Der Junge schluchzte.
»Knie nieder!«, brüllte er, um dann zu schweigen. Minutenlang. Nichts als Stille. Nur das Wimmern war zu hören.
»Du fürchtest dich.« Ein sanftes Flüstern, nah am Ohr des Jungen, warmer Atem. »Ja. Ich weiß. Aber nicht so, wie ich mich gefürchtet habe. Ich werde dir nichts tun. Ich habe keine Waffe in meiner Hand. Du musst keine Angst haben, denn ich habe dich gerettet! Du hast es warm hier drin. Du musst nicht frieren.«
Er strich sacht über die Haare des Jungen. Zitternd und tröstend. Er hatte Essen mitgebracht und frisches Wasser. Für später. Zuerst musste er ihm die Augen öffnen. Es gab Wichtigeres, als den sterblichen Körper zu erhalten.
»Bald wird es so weit sein! Dann kommt Er zu mir. Deinetwegen. Ich warte schon so lange. Vielleicht macht Er auch dich zu etwas Besonderem und befreit dich von der Angst. Ein für alle mal. Ich kenne Seinen Plan nicht, aber wir sind ein Teil davon. Das hast du mir zu verdanken!«
Er war so stolz auf sich. Die Hand streichelte weiter.
»Ich werde dir von Ihm erzählen. Dann wirst du verstehen. Ich bin Sein Schüler und Er ist der Meister.«
* * *
Beruhigend legte Paula Winkler die Hand auf Irene Neumaiers Arm. Im ersten Stock des Reihenhauses standen sie nebeneinander auf dem Flur vor Markus’ Zimmer. Die Herbstsonne warf ein warmes Licht auf den Parkettboden, aber ihre Kraft ließ bereits spürbar nach.
»Ich lasse Ihnen Sven und Hassan hier, die nehmen sich jetzt Markus’ Computer vor. Vertrauen Sie uns, wir finden ihn.«
Die jungen Beamten saßen in Markus’ Zimmer. Auf seinem Stuhl, an seinem Schreibtisch.
»Sie durchforsten seine Daten, versuchen seine Spur im Internet aufzuspüren und herauszufinden, mit wem er Kontakt hatte in irgendwelchen Chat-Rooms.«
»Wozu?« Irenes verzagte Stimme kippte ins Schrille. »Wozu? Er ist da draußen, in der realen Welt!«
Wie oft hatte sie sich das gewünscht. Dass er am echten Leben teilnahm, statt in seinem Zimmer zu sitzen. Und jetzt? Sie hätte alles gegeben, ihn dort zu sehen. Auf diesem Stuhl am Computer. Nicht diese fremden Männer.
»Sebastian hat uns einen Hinweis gegeben. Markus war am Freitagabend verabredet. Er wusste nicht, mit wem, aber es war eine Internetbekanntschaft. Es ist eine Chance. Wenn er bei dem Treffen war …« Paula hob die Schultern. »Vielleicht ist das der Freund oder die Freundin, die uns in der Rechnung fehlt. Und er ist dort, kerngesund und munter.«
»Nein.« Irenes verquollene Augen schauten durch sie hindurch. »Da drin«, sie deutete auf den Computer, »sind keine Freunde.«
Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und verschwand im Badezimmer.
Paula strubbelte sich mit beiden Händen durch die kurzen, rot gefärbten Haare. Mal wieder die typische Reaktion einer Mutter, die nicht wahrhaben wollte, dass ihr Kind einen Weg eingeschlagen hatte, auf dem sie weder schritthalten konnte, noch wusste, in welche Richtung er führte. Als ob der Computer alleine der Kern des Problems sei. Der klassische Generationenkonflikt – und Kommunikation eine unterschätzte Kunst. Sie kramte eine Schachtel Zigaretten aus der Jackentasche, hielt sie sich unter die Nase und sog gierig den Tabakgeruch ein. In diesem Haus war nicht daran zu denken, sich eine anzuzünden. Aber der Geruch beruhigte ihre Nerven. Die Hinweise bisher waren mehr als dürftig und die Familie hüllte sich in dezentes Schweigen, bis man ihnen die Zähne mit Gewalt auseinanderzerrte. Ohne Mischas Hilfe hätte vermutlich auch Sebastian weiter über die Verabredung im Wald geschwiegen. Ermittlungen im Umfeld eines Kollegen gestalteten sich oft besonders schwierig.
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