Ich bin ein Mörder
Conrad Neumaier zuckte zusammen. »Irgendjemand schleicht bei dir ums Haus, beobachtet deine Kinder, und du hältst es nicht für nötig, mir das zu sagen, obwohl dein Sohn seit mehr als fünf Tagen verschwunden ist!«
»Meine Frau hat es dir offenbar gesagt.«
»Nein. Das war Sebastian. Was geht bei dir zu Hause vor, Conrad? Ich weiß inzwischen auch, dass Markus an illegalen Gotchaspielen teilnimmt.«
Neumaiers Finger verkrampften sich ineinander.
»Davon wusstest du also auch?« Sein Schweigen bestätigte ihren Verdacht. »Herrgott noch mal, was verheimlichst du denn noch alles? Willst du nicht, dass wir deinen Sohn finden?«
Erst jetzt bewegte Neumaier sich wieder, rieb sich die Augen mit beiden Händen und stöhnte auf.
»Nichts. Nichts sonst. Ich bin ein Idiot Paula, einfach ein Idiot, der nicht wahrhaben wollte, was passiert. Ich bin als Vater ein Versager! Zuerst hat mir Sabrina das klargemacht und dann … Nach dem Streit mit Markus … Ich dachte einfach nur, das ist seine Rache an mir. Verstehst du? Und das glaube ich immer noch. Er verschwindet und das fette, alte Bullenschwein kann ihn nicht finden. Das ist sein Triumph.«
Bitterkeit in seiner Stimme, Resignation in seiner Haltung. Der Schmerz saß tief. Paula Winkler unterdrückte ihr Mitgefühl trotzdem.
»Hoffen wir, dass du recht hast, Conrad. Hoffen wir es.« Das wäre die weitaus angenehmere Lösung des Rätsels.
* * *
Der Mann hinter ihr kam ihr bekannt vor. Wie ein blasses Déjà-vu. Alexandra war sicher, ihn schon einmal gesehen zu haben. Grübelnd riskierte sie einen weiteren Blick über die Schulter. War er schon hinter ihr, seit sie das Café verlassen hatte? Konnte es sein, dass er ihr folgte? Unsinn. Alles nur Einbildung. Sie war mitten in der Stadt, viele Menschen nahmen den gleichen Weg wie sie. Die klassische Shopping-Route über die Zeil. Um abzuschalten, auf andere Gedanken zu kommen.
Reine Zeitverschwendung, das Gespräch mit der Lehrerin. Was hatte es gebracht, außer der Erkenntnis, dass Tobias schon immer ein schwieriger Mensch gewesen war? Ein Rastloser, ein Getriebener, für den keine Wahrheit absolut war. Dass er Menschen benutzte und es auch Freunde in seinem Leben nur auf Zeit gab, war ihr nicht neu.
Im Café war sie zu angespannt gewesen, um etwas zu essen, jetzt brauchte sie dringend einen Kalorienschub. Diesmal nichts Süßes, nichts Versöhnliches. Sie erstand ein fetttriefendes Stück Pizza und hielt Ausschau nach dem Unbekannten. Er war immer noch da, wühlte in seiner Jackentasche nach Kleingeld und machte damit einen Straßenmusiker glücklich. Alexandra schlenderte weiter, verbrannte sich die Zunge am heißen Käse, blieb auf der Hut.
Auch über Tobias’ Eltern hatte sie fast nichts erfahren. Dr. Hübner-Seefelder war ihnen nie begegnet. »Ich glaube, sie haben sich nicht besonders gut verstanden. Der Vater war viel unterwegs. Er ist gestorben. Aber erst einige Jahre nach dem Abitur. Das muss Anfang ’89 gewesen sein.« Es war ihr sichtlich peinlich gewesen, dass sie das so genau wusste. »Ich habe Tobias nie wieder getroffen. Aber ich konnte ihn nicht loslassen. Bis heute.«
War es das, was ihr nun auch bevorstand? Eine lebenslange krankhafte Obsession? Das kam gar nicht in Frage. Alexandra fühlte eine zunehmende Aggressivität. Sie würde sich nicht an ihn verlieren.
Eine der unzähligen Stadttauben kreuzte ihren Weg, brachte sie ins Stolpern. Beinahe hätte sie nach ihr getreten. Dachratten. Lästig und anhänglich, wenn man etwas zu essen dabei hatte. Klebten einem an den Fersen, wie der Kerl, den sie nicht ignorieren konnte. Wenn der nicht bald die Biege machte, würde sie ihn zur Rede stellen. Abrupt blieb sie stehen und schaute scheinbar interessiert in ein Schaufenster. Handtaschen, Schuhe, Accessoires. Sie beobachtete seine Spiegelung in der Scheibe. Er ging vorbei, die Kappe tief in die Stirn gezogen, ohne seinen Schritt zu verlangsamen. Er blieb nicht stehen. Aber sein Arm streifte ihren Rücken und sie zuckte zusammen. Für einen Sekundenbruchteil trafen sich ihre Blicke auf dem Schaufensterglas. Ein farbloser Niemand. Ein kaum merkliches Lächeln auf einem nichtssagenden Allerweltsgesicht. Und ein blaues Kapuzenshirt. Vermutlich war es nur das. Sie atmete langsam ein und wieder aus, ehe sie sich umdrehte und mit den Augen die Zeil in allen Richtungen absuchte. Der Mann war nicht mehr zu sehen.
»Es geht doch nichts über ein kleines bisschen Verfolgungswahn«, murmelte sie
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