Ich bin eine Nomadin
gewesen sein. Der Raum hatte ein Dach aus Stroh und einen mit Papyrusmatten bedeckten Sandboden. Er war durch eine Wand abgeteilt, die aus Zweigen und darin eingeflochtenem getrocknetem Gras bestand. Die meisten Kinder waren so alt wie ich oder wenig älter. Jungen und Mädchen saßen zusammen. Ein Lehrer mit einem dünnen Stock in der Hand trieb uns in den Raum und rief: »Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen«, und wir riefen es ihm nach. Er skandierte Verse aus dem Einführungskapitel des Korans und ließ sie uns nachsingen. Wir rezitierten den Text auf Arabisch, eine Sprache, die wir nicht konnten. Wahrscheinlich sprach auch der Imam nicht viel Arabisch. Er brachte uns bei, einen Text zu rezitieren, dessen Bedeutung uns allen unbekannt war. Und niemand erklärte uns, warum.
Wir sollten vier oder fünf Verse auswendig lernen und dann auf ein Holzbrett schreiben. In dieser Medresse lernte ich auch, wie man aus Kohle, Wasser und Milch Tinte anrührt. Jeder bekam ein Stäbchen – genau wie die, mit denen wir unsere Zähne putzten. Wir kauten darauf, bis die Spitze weich und bürstenähnlich war. Wenn die Bürste zu lang wurde, bissen wir das überflüssige Stück ab und spuckten es auf den Boden. Dann tauchten wir das Stäbchen in ein Tintenfass, und ich lernte alif schreiben, den ersten Buchstaben des arabischen Alphabets. Alles, was wir schrieben, sei heilig, so wurde uns gesagt. Wir wuschen die Bretter mit einem besonderen, gesegneten Wasser, und es war eine Sünde, sie auf den Boden zu legen.
In der Mitte der Medresse thronte ein großes Buch auf einem hölzernen Pult: der heilige Koran. Das Buch war aufgeschlagen, aber es war so heilig, dass wir es nicht berühren durften. Nur die größeren Kinder, die schon ein wenig fortgeschritten waren, durften sich dem Buch überhaupt nähern. Nicht nur der Inhalt des Korans war heilig, sondern auch das Buch an sich.
Die älteren Kinder wussten, was es bedeutet, sich zu reinigen, und wie man die Waschungen vornimmt. Sie konnten viele Verse auswendig rezitieren. Wir jüngeren hatten noch keine Vorstellung von Reinheit und wurden deshalb nicht einmal in die Nähe gelassen. Den Koran lernen hieß damals: alt genug sein, um die Waschungen vorzunehmen, möglichst viele Verse auswendig lernen, das arabische Alphabet lernen und den Koran abschreiben.
Nach vielen Stunden Unterricht durften wir nach Hause gehen. Wir aßen zu Mittag, legten uns für einen Mittagsschlaf ins Bett und setzten uns dann unter den Talalbaum vor unserem Haus und beteten darum, dass unser Vater aus dem Gefängnis entlassen würde. Wenn es mir bei diesen Bittgebeten gelang, ein paar Koranverse zu zitieren, wurde ich gelobt.
Der Koran kam auch bei anderen Zwecken zum Einsatz. Meine Tante Hawo hatte Brustkrebs. Hin und wieder rief meine Mutter einige Korangelehrte zu sich. Sie saßen in einem Kreis um meine Tante und zitierten den Heiligen Koran, und nach einigen Versen spuckten sie ein paar Tröpfchen auf sie. Man glaubte, der Koran sei Medizin, er könne heilen.
Aber der Koran diente auch zur Bestrafung. Am Eingang der Koranschule hing eine Hängematte zwischen zwei Pfosten. Man sagte mir: »Wenn du ungezogen bist, dich schlecht benimmst, wenn du nicht artig folgst, dann bekommst du die Itha-Shamsu -Behandlung.« Ich hatte keine Ahnung, was das sein sollte, bis ich eines Tages sah, wie unser Lehrer einen kleinen Jungen in die Hängematte hob. Sie war so hoch aufgespannt, dass er sich, wenn er herausfiel, bestimmt sehr wehtun würde. Dann wies der Lehrer die älteren Jungen und Mädchen an, sich einen langen dünnen Stock von einem Stapel in der Ecke zu holen. Anschließend stellten sie sich um die Hängematte herum auf und schlugen den Jungen im Takt einer Sure im Koran, die wir Itha Shamsu Kuwirat nennen. Nie zuvor hatte ich solche Angst gehabt.
Itha Shamsu Kuwirat heißt »die Sonne wird in Dunkelheit eingehüllt« (Sure 81,1), obwohl ich das damals nicht wusste. Die Sure beschreibt die Strafen des Letzten Gerichts, aber diese Bedeutung wurde uns in der Medresse nicht verraten. Fragen waren in der Medresse unerwünscht, sie galten als unverschämt.
Gewalt war also ein fester Bestandteil meiner Erziehung. Das lag aber keineswegs daran, dass ich das Opfer einer besonders gewalttätigen Familie oder schlechter Schulen gewesen wäre. Was ich erlebte, war typisch dafür, wie Menschen in der ganzen nichtwestlichen Welt mit Gewalt als gesellschaftlich anerkannter Norm aufwachsen. Ich weiß
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