Ich bin eine Nomadin
noch, dass ich während meiner Tätigkeit als Dolmetscherin in den Niederlanden einmal zu einer Grundschule in Den Haag gerufen wurde. Ich sollte für ein Paar dolmetschen, dessen ältester, siebenjähriger Sohn Mohammed einen anderen Jungen in seinem Alter, Mark, geschlagen hatte. Beide Elternpaare waren ganz aufgebracht, sie fühlten sich missverstanden und brüllten sich schon seit Tagen gegenseitig an. Jetzt versuchte die Schule, den Konflikt zu lösen, indem sie einen Dolmetscher einschaltete – mich.
Der Lehrer fixierte Mohammeds Eltern mit einem finsteren, missbilligenden Blick und begann: »Mohammed ist sehr aggressiv. Er hat Mark geschlagen, getreten, ihm ins Gesicht gehauen und gedroht, ihn umzubringen.«
Mohammeds Mutter antwortete mit erhobener Stimme und fuchtelte dabei wild mit der Hand vor dem Lehrer herum: »Es ist Marks Schuld. Er hat Mohammed provoziert, hat ihn beschimpft, demütigende Gesten gemacht und ihn ausgelacht.«
»Das stimmt«, warf der Lehrer ein. »Aber Mohammed hat als Erster zugeschlagen!«
Da warfen Mohammeds Mutter und Vater die Hände in die Luft und riefen unisono: »Natürlich wartet doch niemand, bis er zuerst geschlagen wird! Wir haben ihm beigebracht, jedes Kind ins Gesicht zu schlagen, das ihn schief anschaut.«
Der holländische Lehrer sah nunmehr verblüfft und fast sprachlos die Eltern an, dann mich, und fragte ungläubig:
»Bringen Sie ihm etwa bei, dass Gewalt die richtige Methode ist, Konflikte zu lösen?«
In Anbetracht der Verwunderung, mit der meine beiden Klienten sich ansahen, fragte ich, ob ich aus meiner Rolle als neutrale Übersetzerin schlüpfen und eine kulturelle Interpretation des Falles vorbringen dürfe.
Ich erklärte den Eltern, dass in Holland Konflikte anders als in Somalia durch Reden gelöst werden, Reden bis zum Umfallen auf der Suche nach einer Kompromisslösung. Und wenn das nicht funktioniert, geht man vor Gericht, wo das Reden von Menschen übernommen wird, die Anwälte heißen und einen vertreten. Das ganze Gerede endet schließlich mit einem Urteil, das von einem Richter verkündet wird. Hierzulande, erklärte ich weiter, müsse man nicht gut im Schlagen, Treten, Beißen, Kratzen oder Schießen sein. Neben dem üblichen Lehrplan mit Rechnen, Sprache und Geografie werde den Kindern auch beigebracht, Probleme mit Worten zu lösen, durch Worte einen Studien- oder Arbeitsplatz zu bekommen, mit Worten einer Frau seine Liebe zu gestehen oder Schluss zu machen und so weiter.
Dem holländischen Lehrer hingegen erklärte ich, dass in Somalia starke Clans ihren Kindern, Jungen ebenso wie Mädchen, die Vorzüge physischer Aggression beibringen: dass man möglichst als Erster zuschlägt, wie man reagiert, wenn man von einem Schlag überrascht wird, die Kunst der Täuschung beim Kampf – so tun, als sei man erledigt und dann zuschlagen, sich scheinbar entschuldigen, dann neuen Anlauf holen, die Taktik ändern und zurückschlagen. Meine ältere Cousine nahm mich zu »Kampfübungen« nach der Schule mit, als ich fünf oder sechs war. Ich wurde regelrecht aufgestachelt, mit einer Klassenkameradin einen Kampf anzufangen, die ihrerseits ebenfalls aufgehetzt wurde. Wir streckten uns gegenseitig die Zunge heraus, zogen Fratzen und beschimpften uns. Wir sagten etwa: Du bist gemein, verflucht, unanständig, ehrlos, kintirley (unrein, weil noch nicht beschnitten). Dann gingen wir, im Kreis johlender, älterer Verwandter, aufeinander los. Wir traten, kratzten, bissen uns, rangen miteinander, bis wir ganz zerkratzt, unsere Kleider zerrissen und die Knie vom Fallen ganz aufgeschürft waren. Wer als Erste aufgab oder weinte oder weglief, hatte verloren. In allen drei Fällen bekam man vom »Kampftrainer« harte Worte zu hören und wurde heftig geschlagen. Meine Trainerin war meine ältere Cousine, die einzige Tochter der Zwillingsschwester meiner Mutter.
In den ersten zwanzig Jahren meines Lebens war die Anwendung von Gewalt für mich ein natürlicher Teil des Daseins. Zu Hause schlug Ma mich und meine Geschwister. Wenn mein Vater bei uns war, verprügelte er meinen Bruder regelrecht, manchmal sogar lange und ausgiebig mit dem Gürtel.
Im Gegenzug schlug Mahad wiederum Haweya und mich, manchmal, weil er Ma in ihrem Versuch unterstützte, uns Manieren beizubringen und unseren Ungehorsam zu brechen, manchmal auch nur, um uns zu zeigen, dass er der Boss war, der stellvertretende Herr im Haus, der die Autorität meines Vaters durch seine eigene ersetzte. Damit
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