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Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
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verloren habe. Seine Pflichtverteidigerin baute ihre Strategie geschickt auf, indem sie auf den Bürgerkrieg und die psychischen Folgeschäden bei ihrem Mandanten verwies. Sie rief alle möglichen Experten als Zeugen auf, Psychiater und Soziologen, die alle denkbaren kausalen Verbindungen zwischen dem Krieg und dem Angriff des Somalis auf seinen Vermieter erörterten.
    Der größere Familienkreis des Angeklagten, Nachbarn und Freunde sagten alle aus, dass er ein höflicher, umgänglicher Mensch sei, der unter normalen Umständen keiner Fliege etwas zuleide tue. Sie waren sich einig, dass der ganze Vorfall sich nicht ereignet hätte, wenn der Vermieter ihn nicht provoziert hätte. Der Angeklagte selbst zeigte keinerlei Anzeichen von Reue, er wurde zu einem Jahr Gefängnis verurteilt.
    Während meiner Zeit als Abgeordnete hörte ich zahlreiche Erklärungen für die beunruhigend hohe Gewaltbereitschaft bei Einwandererfamilien. Diese Familien stammten aus der Türkei, Marokko, Somalia, Afghanistan, dem Irak, Ägypten, dem Sudan und Nigeria. Einwanderer von den Antillen und aus Surinam waren bei Gewaltverbrechen ebenfalls überrepräsentiert. Unter ihnen waren Bürger der ersten und sogar der dritten Generation. Alle Personen, die tatsächlicher oder versuchter terroristischer Gewalttaten verdächtigt oder deswegen verurteilt wurden, waren Muslime. Abgesehen von Terrorakten wurde die Liste der Anklagepunkte von Tätlichkeiten angeführt, mal mit Feuerwaffen, mal mit Messern oder anderen scharfen Gegenständen, häufig mit bloßen Fäusten.
    Ich versuchte, meinen Kollegen im Parlament zu erklären, woran das lag. In einigen muslimischen Familien (nicht in allen) ist die Grenze zwischen gewalttätigem und gewaltlosem Verhalten sehr schmal und dünn. In manchen Familien gibt es schlichtweg keine Trennlinie. Kinder werden zu bedingungslosem Gehorsam erzogen. Ungehorsam wird, insbesondere bei Jungen, mit einer Reihe scharfer Verweise geahndet. Wenn das nichts nützt, geht man sehr schnell zu Körperstrafen über. Ehemänner, die von ihren Frauen Ungehorsam fürchten, dürfen sie schlagen. In der Schule, vor allem in Koranschulen, werden Fehler mit Schlägen bestraft. Bei Jungen werden häufig harte Schläge und Ohrfeigen ausgeteilt. Mädchen werden gelegentlich auch geschlagen, erhalten aber meist einen Klaps oder werden gezwickt oder an den Haaren gezogen.
    Westeuropäer sind überrascht, wenn sie hören, dass ein Selbstmordattentäter von seinen Nachbarn und Verwandten als »still«, »hilfsbereit«, »höflich« und »freundlich« beschrieben wird. Wie kann ein Mann, der sonst einer alten Frau über die Straße hilft, urplötzlich einen Massenmord planen oder gar begehen?
    In der muslimischen Familie werden Höflichkeit, Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft zwar hoch geachtet, und alle Eltern trachten danach, ihren Kindern diese Ideale des universellen guten Benehmens beizubringen, aber die Übereinstimmung mit dem Willen Allahs steht noch höher. Außerdem gilt Gewalt als legitimes Mittel, diese Übereinstimmung durchzusetzen.
    Damit möchte ich keineswegs den Eindruck erwecken, dass alle Menschen aus muslimischen Ländern oder Stammesgesellschaften aggressiv sind. Das sind sie nicht. Aber während im Westen physische Gewalt als barbarisch angesehen und meist mit betrunkenen Fußballhooligans oder Drogendealern in Verbindung gebracht wird, ist sie im islamischen Kulturkreis immer noch ein integraler Bestandteil des Verhaltenskodex.
    Wenn es ein unfehlbares Kennzeichen für eine fortschrittliche Zivilisation gibt, so mit Sicherheit die Ächtung und Kriminalisierung von Gewalt. Um zu verstehen, weshalb der Islam Gewalt – und selbst Terror – als politisches Instrument propagiert, möchte ich ausführlicher meine eigene religiöse Erziehung schildern.

    Nachdem wir Somalia verlassen hatten, besuchte ich meine nächste Koranschule in Mekka in Saudi-Arabien. Der Unterricht wurde in einem großen Raum mit einer Tafel abgehalten und war ausschließlich für Mädchen. Wir saßen auf Kissen auf dem Boden, diesmal ein Betonboden, nicht Sand. Spucken war verboten, wir schrieben nicht auf Holzbretter und kauten nicht Stäbchen zu Schreibgeräten, auch die Tinte mussten wir nicht anrühren. Aber hier mussten wir uns von Kopf bis Fuß verhüllen. Nach den Waschungen fragte uns niemand, man ging einfach davon aus, dass unsere Eltern uns entsprechend vorbereitet hatten, sodass schon die kleinsten Kinder die Reinheit in Theorie und

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