Ich bin eine Nomadin
Landsleute bedeutete die Aufnahme in Holland vor allem einen materiellen Vorteil. Einen Teil davon – Geld, Kleidung und andere Luxusgüter – konnte man Verwandten in der Heimat zukommen lassen oder vor anderen Somalis zur Schau stellen, um sich selbst von rangniedrigeren Clans abzuheben. Meine Motivation zur Flucht sah ein bisschen anders aus: Ich wollte keinen Mann heiraten, den ich mir nicht selbst ausgesucht hatte. Niemand von uns war jedoch von dem dringenden Wunsch getrieben, holländischer Bürger zu werden. Es war Zufall, dass wir gerade hier gelandet waren – Zufall oder Fügung, je nach Sichtweise. Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Somali, der dem Bürgerkrieg entkommen ist, und Sie sind jetzt in Nairobi. Kenia gilt bei den meisten somalischen Flüchtlingen als Sprungbrett in den reichen Westen. Also gehen Sie zu einem »Menschenschmuggler«, der sein Geld damit verdient, Pässe, Visa und andere Einwanderungspapiere zu fälschen. Der Schmuggler zeigt Ihnen wie jeder Geschäftsmann seine Waren: Der Eintritt in die Vereinigten Staaten kostet, sagen wir, zwanzigtausend Dollar; Kanada fünfzehntausend; Deutschland zehntausend; Skandinavien irgendetwas zwischen fünf- und zehntausend. Die Schweiz ist richtig teuer. Wenn Sie genügend Geld aufbringen können, normalerweise mit der Hilfe Ihrer Verwandten, die schon in einem dieser Länder sind, gehören Sie zu den Glücklichen, die Zugang zu einem Leben ohne Hunger und mit kostenlosen Annehmlichkeiten bekommen: Gesundheitsfürsorge, Unterkunft und die Möglichkeit, in diese Länder weitere Verwandte hineinzuschmuggeln, die jetzt noch in Flüchtlingslagern oder irgendwo im Niemandsland leben.
Die meisten Menschen kommen nie aus dieser Lage heraus. Sie suchen sich einen Partner oder eine Partnerin und heiraten, sie haben Kinder und schlagen sich durch, so gut sie können. Einige gehen zurück nach Somalia und dann wieder nach Kenia; einige geben einfach auf. Wer sich einen Schlepper leisten kann, hat die Wahl zwischen all den Ländern, in denen man um Asyl bitten kann. Einige Schlepper liefern nicht nur Papiere, sondern als zusätzlichen Service für ein bisschen mehr Geld eine ganze fiktive Lebensgeschichte, orientiert an den Fragen, die die jeweiligen Einwanderungsbehörden den Asylbewerbern stellen.
Sehr oft fliegt der Schwindel natürlich auf. Manche, die einen Schlepper bezahlt haben, um in die Vereinigten Staaten zu gelangen, werden an europäischen Flughafen aufgehalten. Einige werden sofort wieder abgeschoben, aber viele schaffen es zu bleiben, indem sie die Anweisungen befolgen, die ihnen der Schlepper mit auf den Weg gegeben hat: »Zerreiß alle Dokumente mit persönlichen Informationen, die du bei dir hast, wenn du irgendwo an einem Transitpunkt aufgegriffen wirst. Spül sie die Toilette hinunter; wenn du nach der Landung an die Passkontrolle kommst, heb die Hände hoch und bitte um Asyl.«
Und so landen, weil die Vereinigten Staaten die europäischen Flughäfen unter Druck setzen, Transitreisende aus Afrika und dem Mittleren Osten genauer zu kontrollieren, immer mehr Glückssucher an Orten, wohin sie gar nicht wollten, oft in Europa.
Der Bitte um Asyl folgt ein langer Prozess. Einige Glückliche bekommen wie ich das Aufenthaltsrecht und werden schließlich eingebürgert. Aber sie bitten um Asyl, was bedeutet, dass sie an den Staat appellieren, doch als Flüchtlinge anerkannt zu werden. Der Flüchtlingsstatus wird, wenn überhaupt, denjenigen zugesprochen, die die Behörden überzeugen können, dass ihnen in ihren Heimatländern Verfolgung droht. Im Gegenzug verlangt das Gastland, dass man nie mehr in sein Heimatland zurückkehrt. Wer doch zurückgeht, hat den Flüchtlingsstatus verwirkt, weil die Bedingung für den Schutz nicht länger gegeben ist. Menschen, die auf diesem Weg nach Europa kommen, lassen sich schließlich dort nieder, weil es das Einfachste ist, nicht etwa, weil sie unbedingt Bürger werden wollen, manchmal verstehen sie noch nicht einmal, was es bedeutet, Bürger zu sein. Diese Menschen sind deshalb nicht im Geringsten motiviert, die Werte und Lebensweise der Länder anzunehmen, in die sie geflohen sind.
Keiner von uns war auch nur im Entferntesten darauf vorbereitet, neue Werte anzunehmen. Fast alle gerieten in diesem Land, in dem Milch und Honig fließen und in das wir durch einen glücklichen Zufall eingelassen worden waren, in Schwierigkeiten. Und von den vielen Herausforderungen, die dort auf uns warteten, war Geld die
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