Ich bin eine Nomadin
Praxis verinnerlicht hatten. Der Hauptunterschied war jedoch, dass jeder von uns ein Exemplar des Korans hatte.
Allerdings war das nicht der ganze Koran, nur die gut dreißig kürzesten Suren. Dieses Bändchen nannten wir Juz Amma nach der längsten enthaltenen Sure. Sie wurden von einem hohen Regal geholt und verteilt, wir durften sie nicht selbst auf die Tische vor uns legen. Auch sie waren heilig. Wir schlugen alle dieselbe Seite auf und wiederholten langsam, was der Lehrer rezitierte. Wir sprachen jedes Wort ehrfürchtig aus, aber genau wie in Somalia machte sich niemand die Mühe, uns die Bedeutung des Gesagten zu erklären. Auch in dieser Schule wurden jede Aufmüpfigkeit und jede zweifelnde Frage schwer bestraft. Bevor wir die Bücher wieder auf das spezielle Regal zurückstellten, küssten wir sie und berührten sie mit unserer Stirn.
Meine Familie lebte ein Jahr lang in Saudi-Arabien. Auch in der regulären Schule, die zwar keine Medresse, aber ebenfalls eine reine Mädchenschule war, lernten wir den Koran lesen. Hier hatten wir darüber hinaus ein Fach, in dem wir etwas über die Bedeutung der Wörter erfuhren. Das meiste, was wir hörten, hatte mit dem Jenseits und mit Belohnungen und Strafen zu tun. In einem anderen Fach lernten wir etwas über die Hadithe , die Aussprüche des Propheten Mohammed. Als Muslime mussten wir alle seinem Beispiel folgen, aber als Mädchen mussten wir in erster Linie dem Beispiel seiner unzähligen Frauen folgen.
Nach Saudi-Arabien lebten wir in Äthiopien, einem christlichen Land. Meine Mutter war überzeugt, dass wir hier nicht genügend religiösen Unterricht bekommen würden. Mein Vater beruhigte sie und behielt recht. Wir hatten in der Schule ein zusätzliches Fach, in dem es wie in einer Medresse zuging, obwohl wir auf Stühlen und an Tischen saßen. Mithilfe kleiner Ausgaben des Korans lernten wir Verse auswendig und sangen sie langsam. Auch in dieser Schule wurde nie über ihre Bedeutung gesprochen.
In Kenia, wo wir zehn Jahre lang lebten, gingen wir auf eine Koranschule, wo wir den Koran einfach auf den Schoß legten und weiter auswendig lernten. Diese Koranschule war aber für Mädchen und Jungen, was meine Mutter sehr beunruhigte. Als ich meine Regel bekam, beschloss sie, einen Somali als privaten Koranlehrer einzustellen. Er kehrte zu der alten Methode zurück, nach der jeder selbst seine Tinte anrührte und auf Holzbretter schrieb. Ich protestierte damals gegen die mühsamen, veralteten Praktiken, aber nicht gegen den Koran. Unser Lehrer schlug mich schwer, weil ich aufbegehrt hatte, und einmal rammte er meinen Kopf gegen die Wand des Wohnzimmers.
Dann stellte die Schule, die ich besuchte, eine neue Lehrerin für Islamkunde ein: Schwester Aziza. Ihre Unterrichtsmethode war viel sanfter. Sie schlug uns nicht und brüllte uns nicht an. Schwester Aziza war das, was Europäer und Amerikaner heute eine Fundamentalistin oder Islamistin nennen würden. Damals merkte ich das gar nicht, aber ich durchlief einen Radikalisierungsprozess, wie Experten heute sagen.
Schwester Aziza zwang uns nicht zu beten oder zu fasten, nicht einmal in Gewänder mussten wir uns hüllen, die (mehr oder weniger) unsere weiblichen Merkmale verbargen. Vielmehr spornte sie uns zu einem inneren Dschihad an, wie sie das nannte, einem unablässigen Kampf, um der Versuchung und Zerstreuung durch weltliche Dinge wie Musik hören oder mit Freunden ausgehen zu widerstehen. Wir bemühten uns, die vorgeschriebenen fünf Tagesgebete zu halten und die ganzen dreißig Tage des heiligen Ramadan zu fasten, mit einem Ausgleich für die fünf Tage, an denen wir nicht fasten durften, weil wir die Regel hatten.
Schwester Aziza erlaubte uns, Fragen zu stellen. Ich wollte wissen, weshalb ich keine Nichtmuslime zu Freunden haben durfte. Das war eine lästige Vorschrift, weil es für mich hieß, den Kontakt zu einigen sehr guten Freundinnen abzubrechen. Ich wollte außerdem wissen, warum Männer so viele Freiheiten hatten, während wir Mädchen und Frauen so eingeschränkt wurden. Schwester Aziza erwiderte einfach: »Das ist Allahs Weisheit. Allah ist allwissend.« Somit war es uns zwar erlaubt, Fragen zu stellen, aber wir bekamen keine Antworten.
Ständiges Nachfragen galt an sich schon als Sünde, als Zeichen, dass man unter dem Einfluss Satans stand. Natürlich durfte man nach den genauen Unterschieden zwischen dem gerade noch Erlaubten und dem Verbotenen fragen, nach den sogenannten Grauzonen zwischen halal
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