Ich bin eine Nomadin
und haram. Man durfte etwa fragen: »Ist es erlaubt, einen Cousin zu heiraten, wenn die eigene Mutter ihn als Baby gestillt hat?« Oder: »Heute habe ich gefastet, aber kurz vor Sonnenuntergang hat meine Periode eingesetzt; zählt dieser Tag als Fastentag, oder muss ich ihn wiederholen?« Das Fasten im Ramadan brachte eine aus heutiger Sicht fast schon neurotische Fülle spitzfindiger Fragen mit sich. »Beim Zähneputzen ist eine winzige Menge Wasser in meine Speiseröhre geflossen. Habe ich jetzt gegen die Fastenregeln verstoßen?« Aus Angst, versehentlich Wasser zu schlucken, verzichteten viele einen Monat lang auf das morgendliche Zähneputzen, andere spuckten den ganzen Tag über auf den Boden, damit sie nicht ihren eigenen Speichel schluckten.
Meine persönliche Erfahrung mit der, wie ich es nenne, Abschottung des muslimischen Denkens stammt folglich nicht nur von Fundamentalisten wie Schwester Aziza und Boqol Sawm (ein anderer Koranlehrer in Kenia), die ihrerseits in saudischen Schulen radikalisiert worden waren, sondern auch von nicht radikalen, manche würden sagen »gemäßigten« Lehrern. Die einen wie die anderen unterdrückten eine inhaltliche Diskussion des Korans: Sie sagten einfach »Tu dies« oder »Lass es, so steht es im Koran«. Es gab absolut keine Kritik des Textes, keinerlei Reflexion, warum wir die Regeln eigentlich befolgen mussten, und schon gar keine Erörterung des Gedankens, womöglich die eine oder andere Vorschrift nicht einzuhalten, die der Prophet uns vor vierzehn Jahrhunderten im Koran diktiert hatte. Darüber hinaus lasen die meisten Menschen, die ich in jungen Jahren kannte, den Koran nicht einmal oder kannten ihn nur auf Arabisch, was nur sehr wenige verstanden. Der Koran ist ein heiliger Gegenstand, heilig in seiner Gesamtheit, auch in der Sprache. Man nähert sich ihm nicht mit Wissbegierde, sondern mit Ehrerbietung und Ehrfurcht.
Das ist das größte Missverständnis zwischen Muslimen und Nichtmuslimen. Wer sich als Muslim bezeichnet, glaubt, dass der Koran das wahre, unveränderliche Wort Gottes ist, das man wortwörtlich befolgen muss. In Wirklichkeit halten viele Muslime nicht jedes einzelne Gebot des Korans ein, aber sie glauben, dass sie es eigentlich sollten. Wenn Nichtmuslime Muslime in westlichen Kleidern sehen, die westliche Musik hören, vielleicht auch Alkohol trinken, die sich in ihrem sozialen Leben von Westlern eigentlich nicht sonderlich unterscheiden, dann glauben sie, diese Muslime seien gemäßigt. Das ist falsch, weil sie einen Unterschied wie zwischen fundamentalistischen und gemäßigten Christen annehmen.
Gemäßigte Christen sind in meinen Augen jene, die nicht mehr jedes einzelne Wort in der Bibel für das Wort Gottes halten. Sie trachten nicht danach, genauso zu leben wie Jesus Christus und seine Jünger. Sie stehen der Bibel mitunter kritisch gegenüber, die sie in der eigenen Sprache lesen und die mehrfach neu übersetzt wurde. Von manchen Teilen lassen sie sich noch heute inspirieren, andere halten sie inzwischen für überholt.
Das entspricht nicht einem gemäßigten Muslim. Ein »gemäßigter« Muslim stellt die Handlungen des Propheten nicht infrage, geschweige denn, dass er Teile des Korans ablehnt oder zeitabhängig deutet. Ein gemäßigter Muslim mag die Gebote des Islam nicht auf dieselbe Weise wie ein fundamentalistischer Muslim befolgen, etwa das Tragen des Schleiers oder die Weigerung, einer Frau die Hand zu geben. Aber sowohl die Fundamentalisten als auch die sogenannten Gemäßigten sind sich im Hinblick auf die Authentizität, Wahrhaftigkeit und den Rang der muslimischen Schrift einig. Genau aus diesem Grund gelingt es den Fundamentalisten ohne größere Schwierigkeiten, Muslime, welche die Gebote des Islam kaum noch einhalten, zur Aufnahme eines inneren Kampfes zu überreden – des inneren Dschihad.
Ich habe von so vielen Menschen, in den Niederlanden ebenso wie in Amerika, gehört: »Die Soundso war eine gute Freundin von mir. Wir sind früher zusammen ausgegangen. Sie hatte einen tollen Job. Manchmal hat sie auch ein Gläschen getrunken. Sie war genau wie wir, aber jetzt trägt sie ein Kopftuch. Sie hat aufgehört, Schweinefleisch zu essen und Wein zu trinken. Sie möchte nicht mehr unsere Freundin sein.« Oder: »Wir haben immer gewusst, dass er Muslim war, aber jetzt ist er richtig fromm geworden. Er hat sich einen Bart wachsen lassen, kleidet sich anders und hält Abstand zu uns.« Im letzten Jahrzehnt hat sich der
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