Ich bin eine Nomadin
abhalten, mich oder meine Familie zu ermorden?«
Amina: »Würdest du einen Christen daran hindern, mich im Namen des Christentums zu töten?«
Jane: » Wenn du so fragst, ja, das würde ich tun. Sofort. Und weißt du, ich bin keine Christin. Ich glaube nicht daran, dass wir Befehle einer höheren Macht befolgen sollten. Das Leben ist meine Religion.«
Amina: »Ich möchte wirklich nicht über dieses Thema sprechen.«
Jane: »Möchtest du nicht darüber reden, weil du mein Leben nicht retten würdest, oder weil …«
Amina, den Tränen nahe, schreit: »Ich weiß es nicht! Ich will das Richtige tun. Allah sagt mir, was richtig ist. Ich will einfach nur eine gute Muslimin sein, ich will keine Menschen töten, ich will nicht, dass Menschen getötet werden, ich will nur eine gute Muslimin sein.«
Jane: »Bist du sicher, dass du wirklich eine gute Muslimin sein willst? Hier!« (Sie zieht den Koran aus der Tasche und legt ihn Amina in den Schoß.) »Hast du den Koran gelesen? Weißt du, was dort steht? Hier schau mal. Hier steht: ›Töte die Ungläubigen.‹ Und hier verheißt er allen Ungläubigen ewige Strafen, hier, ich habe es dir markiert. Und hier heißt es: ›Schlage die ungehorsame Frau.‹ Und hier, wenn du weiterliest, steht da: ›Peitsche die Ehebrecher aus.‹ Bist du sicher, dass du tun willst, was Allah da von dir verlangt? Bist du wirklich sicher?«
Amina, jetzt in Tränen aufgelöst, schreit verzweifelt: »Ich will wirklich nicht darüber reden!«
Mit diesem fiktiven Szenario konfrontiert, sagen manche vielleicht, Jane sei zu grausam, zu wenig einfühlsam, sie lege es darauf an, die arme, hilflose Amina in die Enge zu treiben. Es ist nicht Aminas Schuld, dass es Muslime gibt, die im Namen ihrer gemeinsamen Religion Verbrechen begehen. Amina muss ihre Identität und ihre Traditionen schützen; Jane sollte toleranter und höflicher sein. Muslimische Organisationen würden Jane Islamfeindlichkeit vorwerfen. Von allen Seiten würde Amina, das arme Opfer, mit Mitleid überschüttet werden.
Aber genau so kann man das Denken öffnen: durch ehrlichen, offenen Dialog. Vielleicht fließen Tränen dabei, aber kein Blut. Aminas Gefühle werden vielleicht verletzt, sie ist verärgert und verwirrt, aber vielleicht fängt sie auch an, sich Gedanken zu machen – ihre unausgesprochenen Glaubenssätze im Licht ihrer eigenen Erfahrungen zu hinterfragen. Es ist ein Mythos, dass eine Regierung oder eine andere höhere Autorität das Denken der Menschen öffnen wird; noch nicht einmal Lehrer sind dabei so erfolgreich wie Gleichaltrige. Klassenkameradinnen wie Amina und Jane stellen einander auf dem Schulhof Fragen. Kollegen sprechen auf dem Flur miteinander, Nachbarn besuchen einander und diskutieren in der Küche.
Meine erste Begegnung mit der Aufklärung als intellektueller Strömung – einem in sich schlüssigen Ideensystem von Philosophen, die begeisterte Anhänger wie auch erbitterte Feinde hatten – fand 1996 statt. Ich war damals sechsundzwanzig Jahre alt und studierte an der Universität Leiden, einem der ersten großen Leuchtfeuer im Zeitalter der Vernunft. Ich lebte unter Studenten, denen diese Werte und Ideen so vertraut waren, dass sie sie gar nicht mehr bewusst wahrnahmen. Meine eigene naive Entdeckung dieser Wertvorstellungen führte dazu, dass mir die Menschen mit einer Mischung aus Überraschung, Belustigung und sogar Besorgnis begegneten.
Den ersten Wert der Aufklärung hatte ich in den Niederlanden schon kennengelernt, und er hatte mir auf Anhieb gefallen: Man wurde ermutigt, Fragen zu stellen, und sogar dafür belohnt. Bisher hatten die Erwachsenen in meinem Leben (meine Mutter, Großmutter, andere Verwandte und Lehrer) Neugier systematisch abgelehnt und als Unverschämtheit gegenüber der Autorität bestraft. In Holland durfte ich jeder Autorität Fragen stellen und hatte Anspruch auf eine Antwort. Diese eigentlich sehr schlichte Regel war für mich eine Offenbarung. Sie spiegelte eine Einstellung wider, in der alle Probleme handfeste Ursachen hatten und Lösungen möglich waren. Kümmernisse aller Art waren kein unergründlicher Fluch Allahs, der nur durch Gebete aufgehoben werden konnte. Wenn man die Gründe nicht kannte, war es ein lobenswertes Unterfangen, sie zu erforschen; Wissbegierde war kein Akt der Gotteslästerung oder Anmaßung.
Heimlich sah ich im Fernsehen die Kindersendung »Willem Wever«, die ein Mann gleichen Namens moderierte. Kinder schrieben Fragen zu Themen auf, über
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