Ich bin eine Nomadin
verschiedene Meinungen, aber es gibt so etwas wie einen vorherrschenden kulturellen Trend: Das muslimische Denken scheint heute vom Dschihad geprägt zu sein. Ein diffuses Sammelsurium von Bewegungen, die in ihrer Auffassung der islamischen Gebote al-Qaida nahestehen, hat sich selbst im Westen in viele kleine und auch große Bereiche des muslimischen Gemeindelebens hineingedrängt. Sie alle verbreiten einen gewalttätigen Glauben und mobilisieren die Muslime mit dem Hinweis, dass deren Identität – die ihrer Meinung nach im Islam liegt – angegriffen werde.
Menschen mit abgeschottetem Denken hören zu, ohne solche Behauptungen zu hinterfragen, und nehmen die Lehren der Fanatiker auf, die sie davon überzeugen wollen, dass es Gottes Gesetz sei, die Muslime sollten gemeinsam in den Kampf ziehen. Wer sein Denken geöffnet hat – wer sich gestattet, selbst zu denken, und die Angst vor der Hölle abgeschüttelt hat –, kann den Agitatoren von al-Qaida sagen: »Ja, es stimmt, was du sagst, steht im Koran, aber ich bin nicht damit einverstanden. Ja, du forderst mich auf, dem Beispiel des Propheten zu folgen, aber ich glaube, dass sein Beispiel in bestimmten Bereichen heute nicht mehr gilt.« Wer sein Denken geöffnet hat, ist nicht immun, aber er ist gewappnet.
Ich glaube, dass es möglich ist, das muslimische Denken zu öffnen, und dass dabei vor allem die Abschottung so vieler junger Menschen im Namen des Islam verhindert werden sollte. Allerdings gibt es meiner Meinung nach einen sehr viel leichteren und direkteren Weg, das muslimische Denken zu öffnen, als eine abmildernde »Neuinterpretation« des Korans: Wir brauchen eine Aufklärungs- Kampagne.
Die europäischen Aufklärung, die im 17. Jahrhundert begann und ihre größten Werke im 18. Jahrhundert hervorbrachte, gründet auf dem kritischen Urteilsvermögen. Sie beruft sich auf Fakten statt auf Glaubenssätze, auf Beweise statt auf Tradition. Sittliche Normen werden nach dieser Weltsicht von Menschen festgelegt, nicht von einer höheren Macht. Die Aufklärung entstand vor allem in Reaktion auf eine bestimmte Religion, das Christentum, und eine bestimmte Institution des Christentums, die römisch-katholische Kirche. Der Prozess war sehr mühselig und begann im Grunde schon Jahrhunderte zuvor, als die katholische Kirche Menschen, deren Denken nicht mit ihrer Sicht der Dinge übereinstimmte, nicht nur exkommunizierte, sondern verfolgte, aus ihrer Heimat und ihrer Gemeinschaft verbannte, mit dem Tode bedrohte und manchmal auch tötete.
Das muslimische Denken ist nicht monolithisch, doch die Muslime teilen einige gemeinsame Vorstellungen und Reaktionsmuster, die man im Zeitalter des Dschihad unbedingt kennen sollte. So fasziniert mich zum Beispiel, dass Hunderttausende, womöglich Millionen Muslime sich veranlasst sahen, gegen eine Karikatur des Propheten Mohammed zu protestieren. Unabhängig von ihrem Heimatland, ihrer Muttersprache, ihrem Geschlecht und ihrem Status beziehen sich Muslime sehr oft auf die Lehren des Propheten Mohammed. Und die Agitatoren des radikalen Islam mobilisieren die muslimischen Massen meist mit dem Hinweis »Das steht im Koran« oder »Der Prophet Mohammed hat es gesagt«.
Es gibt enorm wichtige Anstrengungen in der Wissenschaft, das Wesen des historischen Korans zu erforschen. Wie ist der Koran überliefert worden? Wann wurde er geschrieben und von wem? Woher stammen die Geschichten, die Legenden, die Prinzipien im Koran? Wie können wir seine Authentizität prüfen? Diese Fragen werden vor allem von weltlichen, nichtmuslimischen Forschern behandelt, die auf Fakten gegründete Antworten suchen. Ihr Ziel besteht nicht darin, den Islam zu diskreditieren oder anzugreifen oder auch nur die Muslime aufzuklären. Sie verfolgen keine politische oder religiöse Agenda, nur einen klassischen akademischen Ansatz, ähnlich der historisch-kritischen Methode im Umgang mit dem Alten und Neuen Testament. Einige allerdings haben Angst um ihr Leben und müssen unter Pseudonym schreiben.
Ihre Arbeit ist von entscheidender Bedeutung, denn wenn man das muslimische Denken für die Vorstellung öffnen kann, dass der Koran von einer Gruppe von Männern im Lauf der zwei Jahrhunderte nach Mohammeds Tod geschrieben wurde, dann kann man auch die Veränderungssperre, die noch immer auf dem Heiligen Buch liegt, lösen. Wenn Muslime vor sich selbst die Möglichkeit zugeben können, dass ein Heiliges Buch gebraucht wurde, um die arabischen Eroberungen zu
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