Ich bin eine Nomadin
die sie etwas wissen wollten. (Das war vor Google.) Ihre Eltern halfen ihnen – sie halfen ihnen! –, die Frage klar zu formulieren. Zwei oder drei Fragen wurden für jede Sendung ausgesucht und die Kinder ins Fernsehen eingeladen, um sich genauer mit dem zu beschäftigen, was sie wissen wollten. Dann machten sie eine Reise, um die Antworten zu finden. Warum haben Glühwürmchen Licht im Körper? Warum bewegen sich die Planeten im Uhrzeigersinn um die Sonne? Warum fahren die Menschen in England auf der falschen Straßenseite? Herr Wever und das Kind besuchten Fachleute und bauten Modelle und setzten das Puzzle so Stück für Stück zusammen; irgendwann zeichnete sich des Rätsels Lösung ab.
Ein paar Freunde von mir fanden heraus, dass ich sogar zu Hause blieb, um diese Sendung zu sehen, und behandelten mich, als sei ich ein Kind im Körper einer Erwachsenen. Aber für mich war »Willem Wever« eine Offenbarung. Man stellte Fragen und bekam dafür keine Rüge, sondern … Antworten!
Das führt mich zu einem zweiten Wert der Aufklärung, der völlig neu für mich war: Lernen ist nicht nur eine lebenslange Erfahrung, es steht jedem offen. Der Erwerb von Wissen ist nicht nur Erwachsenen vorbehalten oder nur Männern oder nur einem bestimmten Clan oder einer bestimmten Schicht. Im Westen geht man davon aus, dass jeder in der Lage ist, Wissen zu erwerben.
Der dritte Wert – individuelle Freiheit – ist eng mit dem zweiten verbunden. Wenn man davon ausgeht, dass jeder unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Rasse oder Religion sein Wissen durch den einfachen Prozess des Fragens und der Suche nach Antworten erweitern kann, dann hat man eigentlich schon anerkannt, dass der Einzelne frei ist, denn Freiheit ist untrennbar mit der Wissbegierde verbunden. Wenn zum Beispiel der Rest der Gruppe deine Fragen oder die Antworten, auf die du gestoßen bist, oder das, was du mit den Antworten anfängst, nicht mag, oder wenn du die entnervende Angewohnheit entwickelst, immer neue Fragen zu stellen und auf einer Antwort zu beharren, egal wie lästig oder respektlos die Fragen sind – nie läufst du Gefahr, bestraft zu werden.
Niemand in Leiden verstand, warum ich das so seltsam, so neu, so revolutionär fand.
Ein paar Jahre später wurde ich wegen meiner Recherchen (der Fragen, die ich stellte) und meiner Aussagen zum Islam (der Antworten, auf die ich stieß) von muslimischen Fundamentalisten bedroht. Viele Menschen, darunter auch manche Professoren und Kommilitonen, die ich aus Leiden kannte, waren darüber ebenso überrascht wie einst über meine Fragen als Studentin. Wie konnte so etwas geschehen? Wie konnte es irgendwo auf der Welt geschehen – und ausgerechnet in Holland? Diese reaktionäre, aggressive Haltung stammte doch wohl aus dem Mittelalter, oder?
Für die Menschen im Westen, die Erben des rationalen Denkens, ist es heute schwer, eine Denkweise zu verstehen, die sich an der Gruppe orientiert – die Ansprüche und Zwänge, die Gruppen dem Gewissen, der Zeit, dem Geld, der Sexualität und Loyalität und sogar dem Leben ihrer Mitglieder auferlegen. Der vierte Wert der Aufklärung (der allerdings erst von Max Weber Ende des 19. Jahrhunderts so klar definiert wurde) besteht nämlich darin, dass der Staat das Gewaltmonopol in der Gesellschaft besitzt. Wenn es dem Einzelnen freisteht, Antworten auf alle Fragen zu suchen, kommt er vielleicht zu Antworten, die für einige Gruppen der Gesellschaft, zu der auch er gehört, nicht akzeptabel sind. Diese Gruppen wollen den Fragesteller womöglich zum Schweigen bringen und wenden dabei sogar Gewalt an. Es ist Aufgabe des Staates, sich mit Aggression von außen wie auch mit Gewalttaten der Bürger untereinander zu befassen. Die Gewaltenteilung bindet den Staat an Regeln, die das Missbrauchspotenzial seiner enormen Machtfülle bändigen. Wenn eine Kirche einen Gläubigen mundtot machen will, steht der aufgeklärte Staat dem einzelnen Gläubigen bei, denn wortgewandte und gebildete Erwachsene dürfen sagen und tun, was sie wollen, solange sie anderen keinen Schaden zufügen. So entwickelten die Denker der Aufklärung einen dynamischen Rahmen von rechtlichen und sozialen Instrumenten, die den Menschen helfen sollen, Konflikte gewaltfrei zu lösen.
Ein fünfter Wert der Aufklärung ist die Idee des Privateigentums als Grundlage sowohl der Zivilgesellschaft wie auch des politischen Systems. Wenn es jemandem gelingt, sich von einer ärmlichen Herkunft zu lösen, Geld zu verdienen und
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