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Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
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rechtfertigen, sind der Forschung und der kulturellen Veränderung keine Grenzen mehr gesetzt.
    Wenn es gelingt, das muslimische Denken zu öffnen, wird es dann noch religiöse Riten und Vorschriften geben – das Gebet, die Pilgerfahrt, die Speiseregeln, den Fastenmonat? Es ist gut möglich. Es könnte sogar sein, dass auch Antisemitismus, Verschleierung und häusliche Gewalt nicht verschwinden. Tradition und Gewohnheit sind sehr starke Kräfte. Aber die Köpfe hinter den Schleiern und Bärten würden anfangen, Fragen zu stellen. Endlich gäbe es die Möglichkeit einer seriösen, individuellen, kritischen Überprüfung der islamischen Lehre.
    Das kann unbequem und schmerzlich sein. Ich persönlich war unglaublich erleichtert, als ich akzeptierte, dass es womöglich kein Leben nach dem Tod gibt, keine Hölle, keine Sünde, kein Brennen in der Hölle als Strafe. Bei anderen kann diese Einsicht jedoch zu Trauer und Leere führen. Meine Schwester Haweya und meine Freundin Tahera, die ich in den Niederlanden kennengelernt hatte, verloren ihre Angst vor Schuld und Sünde und dem Schrecken ewiger Strafen. Doch ihr Gefühl, im Jenseits der Verdammung anheimzufallen, übertrug sich offenbar auf ihr Leben im Hier und Jetzt. Und auch ich spüre manchmal diesen Schmerz der Trennung von meiner Familie und den einfachen Wahrheiten des Islam. Er ähnelt dem Schmerz des Erwachsenwerdens oder dem Schmerz des Abschiednehmens von den Eltern, wenn sie älter werden und sterben.
    Es ist der Schmerz, auf eigenen Beinen zu stehen. Sich auf Situationen einzustellen und richtige Entscheidungen zu treffen ist nicht immer leicht; es kann harte, qualvolle Arbeit sein. Das Denken der Aufklärung wird die Muslime nicht unbedingt in Begeisterung versetzen. Aber es wird dafür sorgen, dass jeder die Kontrolle über sein Leben selbst übernimmt. Jeder von uns wird frei sein, sich seinen Weg durch das Leben zu suchen, falsche Entscheidungen zu treffen, neu zu überlegen und neu zu entscheiden. Wir werden Fehler machen, aber wir werden auch die Chance haben, sie zu überwinden, statt dass wir uns ihnen einfach fatalistisch unterwerfen, weil es der unerforschliche Wille Gottes ist. Muslime werden zu echten Individuen werden: frei und für ihre Überzeugungen und Handlungen verantwortlich.

    Nehmen wir zwei Schulfreundinnen im Teenageralter, Amina und Jane. Wir treffen sie direkt nach dem Attentat von Mumbai im November 2008, bei dem pakistanische Fundamentalisten fast zweihundert Menschen umbrachten.
    Jane fragt: »Du bist Muslimin. Was hältst du von den Männern, die im ›Taj Mahal‹ in Mumbai Menschen umgebracht haben? Es war ein Hotel, die Leute aßen gerade zu Abend, sie waren zufrieden und taten nichts Böses.«
    Amina: »Warum stellst du mir diese Frage?«
    Jane: »Die Mörder waren Muslime, und sie riefen ›Allah ist groß!‹, als sie angriffen. Ganz offenbar glaubten sie, im Namen des Islam zu handeln. Du bist auch Muslimin.«
    Amina: »Was hat das damit zu tun?«
    Jane: »Es ist dein Gott.«
    Amina: »Die Menschen töten auch im Namen deines Gottes.«
    Jane: »Ja, vor ein paar Hundert Jahren.«
    Amina: »Nein, heute, in Afghanistan und im Irak und in Tschetschenien.«
    Jane: »Das geschieht nicht im Namen des Christentums. Vielleicht unterstützen Christen diese Kriege, vielleicht auch nicht, aber sie werden nicht im Namen der Bibel ausgetragen.«
    Amina: »Doch. George Bush ist Christ, auf der Dollarnote steht ›In God We Trust‹, die amerikanischen Soldaten beten vor dem Einsatz. All das geschieht im Namen Christi, es ist ein christlicher Krieg gegen den Islam.«
    Jane: »Aber diese muslimischen Männer, die in Indien im Namen des Islam getötet haben – sie unterschieden nicht zwischen Soldaten und Zivilisten. Ihre Opfer waren nur Touristen, die da beim Abendessen saßen.«
    Amina: »Inder töten Muslime im Namen ihrer hinduistischen Religion.«
    Jane: »Würdest du für deinen Gott töten? Würdest du mich, deine Freundin, umbringen?«
    Amina: »Was für eine abstruse Frage. Warum fragst du so etwas?«
    Jane: »Weil du sagst, dass das Christentum die Menschen dazu bringt, und der Hinduismus, und Muslime verteidigen sich im Namen des Islam … Würdest du mich töten? Wenn ein Muslim Angehörige meiner Familie töten wollte, würdest du ihn daran hindern?«
    Amina: »Mir gefällt die Richtung nicht, in die unser Gespräch geht. Ich will nicht weiter darüber reden.«
    Jane: »Würdest du mich töten? Würdest du einen Muslim davon

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