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Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
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dass Frauen launisch, irrational und unzuverlässig seien, galt früher anscheinend universal, ebenso wie es üblich war, dass die männlichen Familienoberhäupter Ehen als geschäftliche Transaktion zwischen Familienclans einfädelten. Auch im Westen gibt es zahllose tragische Geschichten von Kindsbräuten.
    Aber es bestehen Unterschiede zwischen der westlichen Zivilisation und der anderer Kulturkreise. Frauen und Männer in Arabien, China, Indien und Afrika mögen von der Befreiung von ihren jeweiligen Ketten geträumt haben. Womöglich sprachen sie darüber, wie sich die Anschauungen ihrer Unterdrücker vielleicht verändern ließen, oder sie organisierten sich sogar und lehnten sich gegen die Unterdrückung auf. Aber nur im Westen setzten sich die freiheitlichen Ideen, Worte, Organisationen und Revolutionen auch wirklich durch.
    Die Geschichte des Feminismus – oder zumindest des feministischen Denkens – ist zunächst zugleich eine Geschichte der Aristokratie. Jungen Männern und Frauen wurde es gestattet, sich miteinander zu treffen, wenn auch unter strengen Regeln und mit Anstandsdamen. Als das Mittelalter vorüber war, durften in vielen europäischen Gesellschaften die Adelstöchter lesen und schreiben lernen, Geschichte, Musik und sogar Philosophie studieren, und sei es nur, damit sie bei gesellschaftlichen Anlässen geistreich Konversation machen konnten. Statt die überlieferten Geschichten und Gedichte auswendig zu lernen – im Grunde die Bildung meiner Großmutter und ihrer Großmutter, immer mit dem strengen moralischen Ziel, die Sitten und Gebräuche unserer Vorväter zu bewahren –, hatten westliche Frauen die Gelegenheit, einen entscheidenden Schritt weiter zu gehen: Sie durften eigenständig Gedanken und logische Argumentationsketten entwickeln.
    Westliche Frauen waren während und nach der Ära der Aufklärung imstande, ihre schwächere Position zu beklagen. Sie konnten das in einer Sprache und einer Weise tun, die manchen Männern ihrer Zeit, etwa John Stuart Mill, absolut einleuchtete. Töchter der Aufklärung wie die Engländerin Mary Wollstonecraft und später die Amerikanerin Margaret Fuller waren Vorkämpferinnen des Feminismus im Westen. Zu den ersten feministischen Forderungen zählte die Öffnung der höheren Bildungseinrichtungen für Frauen oder zumindest die Gründung von Hochschulen, die Frauen vorbehalten waren.

    Tragischerweise beschließen manche Musliminnen, die heute das Glück haben, von einer hochklassigen Bildung an eben diesen Einrichtungen zu profitieren, das Bild des Islam anstelle der Frauenrechte zu verteidigen.
    Solche gebildete Frauen (und ich habe viele kennengelernt) sind immer noch Ausnahmen. Eine gute Bildung ist Millionen Frauen in ihrem Land verschlossen. Die Studentinnen und Akademikerinnen prahlen mit ihren Privilegien: die Universitätsbildung, die Erfahrung mit liberalen Vätern und Brüdern, die Designerkleidung und die Freiheit, ohne einen Sittenwächter zu reisen. Aber sie ignorieren die unterprivilegierten Massen, mit denen sie angeblich eine Religion und eine Kultur teilen. Manche gehen sogar noch einen Schritt weiter: Sie behaupten, die Unterwerfung muslimischer Frauen sei »Folklore«, das komme nur in abgelegenen, finsteren Dörfern und nur in wenigen Ländern vor, und sowieso sei das Ganze ein Auslaufmodell, ein Überbleibsel der Geschichte, nichts Ernstes, nichts, weswegen man sich Sorgen machen müsse.
    Als die Sklaverei die amerikanische Nation spaltete, erkannten amerikanische Feministinnen die Unmoral der Argumente, die Sklavenhalter vorbrachten. Sie sprachen sich auch gegen Sklaverei aus, aber sie prangerten darüber hinaus auch die Wertvorstellungen an, mit denen eine Behandlung der Frauen als Besitz gerechtfertigt wurde. Es ist eine tragische Ironie der Geschichte, dass viele gebildete Musliminnen ohne Weiteres die Prinzipien verurteilen, mit denen vor gut einem Jahrhundert ausländische Imperialisten die Kolonialländer beherrschten, und dieselben Frauen aber davor zurückschrecken, die Moral zu kritisieren, mit der die Ungerechtigkeiten gegen ihre muslimischen Schwestern gerechtfertigt werden.
    Die Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten bot amerikanischen Feministinnen eine Gelegenheit, sich an die Seite der Afroamerikaner zu stellen, denen wegen der Hautfarbe ihre Rechte verweigert wurden. Auch diesmal blieben die Feministinnen nicht bei der Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe stehen. Sie boten ihren Männern, Vätern,

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