Ich bin eine Nomadin
dass weitere derartige Morde geschehen. Wenn man nicht darüber spricht, sind die Menschen außerstande, die Signale zu erkennen. Ein Einblick in das Muster, das letztendlich zum Mord führt, ist den Pädagogen, Sozialarbeitern, Kriminalbeamten, Nachbarn und Freunden potenzieller Opfer eine große Hilfe.
Was versteht man unter einem Ehrenmord? Zu einem Ehrenmord kommt es, wenn ein Mädchen das Ansehen einer Familie so sehr beschmutzt hat, dass angeblich nur ihr Tod eine Hoffnung bietet, die Ehre wiederherzustellen. Die Schandtat hat so gut wie immer mit Sex zu tun. Entweder war sie allein mit einem Mann, der nicht mit ihr verwandt ist, oder sie hat sich einer Zwangsehe widersetzt, oder sie ist mit einem Jungen ausgegangen, den sie selbst ausgesucht hat. Selbst trivialere Vergehen sind als Anlass denkbar. Womöglich ist sie völlig unschuldig und wird nur verdächtigt, gegen den Ehrenkodex des Clans verstoßen zu haben. Im August 2007 prügelte ein saudischer Mann auf seine Tochter ein und erschoss sie am Ende, nur weil sie sich auf Facebook registriert hatte. Der Vorfall wurde erst sieben Monate später publik, als ein Geistlicher ihn als Beweis dafür zitierte, dass das Internet den islamischen Moralvorstellungen schade. (Er zeigte keinerlei Mitleid mit dem Opfer.) Vermutlich wird der Vater für den Mord an seiner Tochter nicht einmal nennenswert bestraft. Im Juli 2008 verurteilte ein saudisches Gericht eine Chemiestudentin zu dreihundertfünfzig Peitschenhieben und acht Monaten Gefängnis, weil sie eine »Telefonbeziehung« zu einem ihrer Professoren hatte.
Der Mörder ist in der Regel der Vater oder der Bruder – ein Mensch, mit dem das Mädchen aufgewachsen ist und der sie gut kennt. Man stelle sich das bedrückende, von Angst erfüllte Leben einer jungen Frau vor, die genau weiß, dass es ihr Ende sein kann, wenn sie sich ohne Begleitperson mit dem Jungen trifft, den sie gernhat. Man stelle sich vor, wie entsetzlich es sein muss, wenn der eigene Vater mit einer Pistole, einem Messer oder einem Strick auf einen zugeht. Man stelle sich umgekehrt den Mörder vor: ein Mann, der von der Schande seiner Tochter so sehr gequält wird, dass er, um den verdrehten Vorstellungen seines Clans von richtig und falsch gerecht zu werden, zur Pistole oder zum Messer greift und die junge Frau umbringt, die er selbst aufgezogen hat – die er einst auf den Knien schaukelte und bei den ersten Schritten an der Hand gehalten hat.
Das ist keineswegs ein uralter, längst vergessener Brauch, vergleichbar mit den mittelalterlichen Hexenverbrennungen. Jedes Jahr geschehen nach Schätzungen des United Nations Population Fund weltweit mindestens fünftausend Ehrenmorde, vorsichtig geschätzt wohlgemerkt. Der größte Teil ereignet sich in Pakistan, Saudi-Arabien, Syrien, Jordanien, Ägypten, Algerien, Marokko, in der Türkei, im Iran und im Irak oder in ethnischen Gemeinschaften aus diesen ausnahmslos muslimischen Ländern. Nicht alle Opfer sind Musliminnen, auch unter Sikhs und nichtmuslimischen Kurden kommt es zu Ehrenmorden. Aber der weitaus größte Teil sind Musliminnen.
Das wesentliche Merkmal eines Ehrenmords, das ihn von einem beliebigen Verbrechen aus Leidenschaft unterscheidet, ist der Umstand, dass er in den meisten Fällen von der Gemeinschaft gebilligt wird. Die Eltern werden von der Gesellschaft ausgeschlossen, wenn sie es der Tochter »erlauben«, sich »schlecht zu benehmen«: Die Mutter wird hämisch verspottet, der Vater wird als impotent, schwach, nicht ganz richtig im Kopf angesehen. Die Eltern werden erst dann von dem Makel erlöst, wenn sie dem ungezogenen Betragen der Tochter ein Ende gesetzt haben.
Im Jahr 2006 gab bei einer Umfrage der BBC unter fünfhundert jungen Einwanderern in Großbritannien (zum großen Teil Muslime, aber auch einige Hindus und Sikhs) jeder zehnte an, Ehrenmorde seien unter Umständen gerechtfertigt. In Amerika wurde keine vergleichbare Umfrage durchgeführt, und ich will nicht behaupten, dass in den Vereinigten Staaten lebende Muslime auf jeden Fall das Gleiche sagen würden. Aber es bleibt eine Tatsache, dass auch in Amerika Ehrenmorde geschehen.
Fünf Monate nach dem Mord an Amina und Sarah Said erstach ein zweiundzwanzigjähriger Afghane in der Stadt Henrietta im Norden des Bundesstaats New York seine neunzehnjährige Schwester, weil sie ihre Familie entehrt hatte und angeblich ein »schlechtes muslimisches Mädchen« war, wie es in den Gerichtsprotokollen hieß. Sie war in Clubs
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